«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours

6/02/2011

fahrenfahrenfahren

Noch nie habe sie jemanden so Rad fahren sehen wie den kleinen Jungen im neuesten Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, "Le gamin au vélo", schreibt Katja Nicodemus in ihren Cannes-Tagebüchern für die Zeit. 
© Christine Plenus für Cannes 2011 
Gerade noch in Cannes mit dem Grand Prix du Jury 2011 ausgezeichnet und schon in Hyères im Cinéma zu sehen, da habe ich natürlich nicht lange gezögert (auch, wenn ich bei der Frage nach einem kleinen Gläschen Wein vor dem Film von den in grellem Blau gekleideten Männern Anfang 40 - die mit übersprudelndem Enthusiasmus kiloweise raschelndes Popcorn, Cola, Fanta und weiteres zuckriges an die ausgehungerten Spasskinogänger verkaufen- entgeistert angeschaut wurde. Als wenn ich gerade nach einem Kilo Hasch gefragt hätte. bref...). "Le Gamin au vélo" erzählt die Geschicht von Cyril, 12 Jahre alt und auf der Suche nach seinem Vater, der ihn mit dem Versprechen, ihn nach ein paar Wochen zurückzuholen, im Heim abgesetzt hat. Aus den Wochen wurden Monate und Cyril erhält schon lange keine Nachricht mehr von seinem Vater. Bei dem ein oder anderen würde dies vielleicht Wut und Trauer hervorrufen, nicht so bei Cyril. Er ist der festen Überzeugung, dass sich sein Vater bei ihm melden wird, er ruft an, auch wenn die Nummer längst nicht mehr vergeben ist, er reisst aus, um an der längst verlassenen Wohnungstür zu klingeln, er kämpft, beisst und tritt. Immerhin hat Guy Catoul, der Vater, seinem Sohn versprochen, ihm sein Rad zu geben, damals. Cyril ist genau so verbissen, konsequent und stark in seiner Suche, wie er auch in die Pedale tritt. Als das Treten nicht mehr hilft, klammert sich Cyril an eine wildfremde Frau aus dem Viertel (Cécile de France/Samantha) und gibt erst nach, als er die leere Wohnung des Vaters mit eigenen Augen sehen kann.
© Christine Plenus für Cannes 2011 
Wie aus dem Nichts lassen die Dardennes nun eine Beziehung zwischen Samantha und Cyril entstehen. Es gibt keinen Grund dafür, keinen wirklichen Auslöser, wieso oder weshalb. Samantha steht eines Tages vor dem Heim und bringt Cyril sein Fahrrad. Sie hat es einem Mann aus dem quartier abgekauft, der es widerum von Cyrils Vater gekauft hat. Verräterisch? Keineswegs, Cyril ist sich sicher, dass sein Vater das Rad nie verkaufen würde, es muss gestohlen worden sein. Samantha überzeugt ihn vom Gegenteil und der Junge ergreift seine Chance: Je peux venir chez toi les weekends? Er verbringt die Wochenenden nun bei ihr, in der Wohnung oberhalb des Friseursalons, den sie betreibt. In einem Viertel, dass nicht ganz banlieue ist, aber trotzdem schon etwas Randgebiet. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Guy, kommen sich näher, streiten, teilweise auf sehr verstörende Weise seitens Cyril. Man sieht jedoch in seinem Blick, dass ihn die Überzeugung Samanthas ihm gegenüber imponiert. Das stoische Entgegenkommen Samanthas wiegt das andererseits ebenso stoisch wütende Verhalten Cyrils auf. Warum Samantha sich so für den Jungen aufopfert, sogar ihre Beziehung für ihn aufgibt, wird nie wirklich geklärt, aber das ist auch nicht der Punkt, den die Dardennes hervorheben wollen. Sie sind Spezialisten der Jugend-Sozialdramatik, mit einer ganz bestimmten Esthetik. Im Mittelpunkt steht der Junge, da muss nicht viel drumherum hinzugefügt werden. Trotzdem schaffen sie es, neben der Vater-Sohn-Samantha Geschichte noch einen weiteren gesellschaftlichen Brennpunkt einzubauen; was ist gut, was ist schlecht? Darf Gewalt mit Gegengewalt vergolten werden? Sieht man den "ordentlichen Bürgern" an, wozu sie im Ernstfall fähig wären? 
Mehr wird nicht verraten, bloss noch ein kleiner Hinweis. Wer beim Hören der ersten Takte von Beethovens 5. Concerto gleich an Kitsch und "bitte nicht das" denkt (was ich zugegebenermassen tat), nicht die Augen verdrehen, das hat alles seinen Sinn, wie einem zum Schluss klar wird.
Und wer so sympathisch lächelt, kann nur gute Filme machen.
© Christine Plenus für Cannes 2011 

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