«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours
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8/10/2016

vom leben ein lauf *

Wisława Szymborska: Das Schreiben eines Lebenslaufs
Was ist zu tun?
Ein Antrag ist einzureichen,
dazu ein Lebenslauf.
Ungeachtet der Länge des Lebens
hat der Lebenslauf kurz zu sein. Geboten sind Bündigkeit und eine Auswahl von Fakten.
Die Landschaften sind durch Anschriften zu ersetzen
labile Erinnerungen durch konstante Daten.
Von allen Lieben genügt die eheliche,
nur die geborenen Kinder zählen.
Wichtig ist, wer dich kennt, nicht, wen du kennst.
Reisen, nur die ins Ausland.
Zugehörig wozu, aber ohne weshalb.
Preise, ohne wofür.
Schreibe, als hättest du niemals mit dir gesprochen
und dich von weitem gemieden.
Umgehe mit Schweigen Hunde, Katzen und Vögel,
den Erinnerungskleinkram, Freunde und Träume.
Es gilt der Preis, nicht der Wert,
der Titel, nicht dessen Inhalt,
die Schuhgröße, und nicht wo
der Mensch, für den man dich hält, hingeht.
Dazu eine Fotografie mit entblößtem Ohr.
Wichtig ist seine Form, nicht, was es hört.
Was es hört?
Das Knirschen des Papierwolfs.
(Pisanie ż yciorysu, 1986)
Aus: Wisława Szymborska. Die Gedichte. Hrsg. und übertragen von Karl Dedecius.
Frankfurt (Main): Suhrkamp1997
gefunden, HIER nicht nur deshalb, sondern auch wegen und weil

3/20/2016

how to write about nothing?

that's the first question patti smith asks herself at the beginning of her book m train.



than she continues wandering around, around cafés, around life, around words and a lot of deep black coffee and beyond, especially beyond...

6/23/2015

gelesen und ...

Xu Lizhi war Wanderarbeiter bei der chinesischen Firma Foxconn, wobei Firma vielleicht noch das geschönte Wort ist. Er entschloss sich für ein Leben in der Stadt, zog fort und hin und jeder Schritt brachte ihn tiefer, im Lieben, aber auch in seiner Poesie, in der er sich als einzigem wiederfand. Der 24 jährige nahm sich am 30. September 2014 das Leben und sprang aus einem Fenster eines Einkaufshauses, das, im Gegensatz zu vielen anderen, noch nicht mit einem Sicherheitsnetz umzäunt war, wie ein Zoo, in dem die Wärter die verschreckten Tiere vor der Flucht bewahren wollen. Licht sprang und fand wieder zu sich selbst, eine traurige Wahrheit, die am Wochenende in einer Reportage in de SZ zu lesen war. Die Umstände in den chinesischen Großkonzernen, in denen wir unser Apples und iPhones fabrizieren lassen, sind mir durchaus bekannt, aber daran denken tut man nicht ständig, erst recht nicht beim nächsten Kauf. Da muss einen dann erst das Wort wieder aufrütteln und verstummen lassen.
Wenn ich so etwas lese, möchte ich, und das klingt naiv, die Revolution anzetteln oder im Boden versinken und den Kopf schütteln. Ein Gefühl von taubem Unverständnis, das einen lähmt und von Ärgernis, die einem Kraft gibt. Und durch das Unverständnis fühlt man sich auf einmal auch wieder mit der Welt verbunden, erwacht aus den Gedankenwelten, in denen man sich üblicherweise befindet, aus den Welten, in denen man arbeitet oder lebt. Diese sind gut und wichtig und auch notwendig, damit eine Welt so funktioniert, wie sie funktionieren kann oder könnte, aber plötzlich fühlt man sich hilflos oder ohnmächtig allem gegenüber, möchte Fragen stellen, Antworten hören und eigentlich nochmals Fragen stellen, da die meisten Antworten keine Antworten sind, sondern nur Aufschübe.

Ich schluckte einen eisernen Mond
Sie nennen es eine Schraube
Ich schluckte die Fabrikabwässer
Die Arbeitslosenpapiere
Die Jugend, vor die Maschinen gebückt
Stirbt vor ihrer Zeit
Ich schluckte die Schufterei
Ich schluckte das verrostete Leben
Jetzt kriege ich nichts mehr runter
Alles, was ich geschluckt habe
Quillt aus meinem Rachen hervor
Ergießt sich über dem Land meiner Vorfahren
In ein schändliches Gedicht


Gedicht von Xu Lizhi (das dieser nun im Nachhinein als einen der großen der chinesischen Poesie gefeiert wird, ist auch immer wieder erstaunlich, postmortem erst erwachen die anderen zum Leben oder er vielleicht auch, der im Grunde gar nicht herauswollte vielleicht aus seinem Leiden)

1/03/2015

schrullen

Schrullen, Schrullen muß man haben, und den Mut muß man haben, mit seinen Schrullen zu leben. So lebt sichs nett. Es darf keiner Angst vor seinem bißchen Wunderlichkeit haben.  Robert Walser (1916)

Ich entdecke gerade Robert Walser als den idealen Lektüregesellen zum neuen Jahr. In seiner zugleich wunderbaren, wundersamen, tanzenden Prosa, die ebenso tragisch, dunkel und herzzerreißend sein kann, schrieb er für uns auf, wie man es nimmt oder nehmen kann, das Leben. Susan Sontag schrieb über ihn, dass er sich immer am Rand eines Abgrunds befand, an dem er seine Texte verfasste, aber von diesem hat er sich auch immer ebenso charmant und keck wieder entfernt, dem Schlimmem hat er nur einen Streich spielen wollen, denn stärker war er mit seinen Wortarabesken allemal. 

12/02/2014

***

Was immer uns lehrt, mit uns selbst zu sprechen, ist wichtig: was immer uns lehrt, uns singend aus der Verzweiflung zu lösen. Aber das Bild (Der Distelfink, Carl Fabritius) hat mich auch gelehrt, dass wir über die Zeit hinweg miteinander sprechen können. Und ich habe das Gefühl, ich habe dir etwas sehr Ernstes und Dringliches zu sagen, mein nicht existierender Leser, und ich glaube, ich solle es so dringlich sagen, als stünde ich mit dir im selben Zimmer: dass das Leben - was immer es sonst sein mag - kurz ist. Dass das Schicksal grausam ist, aber vielleicht nicht beliebig. Dass die Natur (also der Tod) immer gewinnt, was aber nicht bedeutet, dass wir buckeln und um Gnade winseln müssen. Dass es, auch wenn wir nicht immer so froh sind, hier zu sein, unsere Aufgabe ist, trotzdem einzutauchen: geradewegs hindurchzuwaten, mitten durch die Jauchegrube, und dabei Augen und Herz offen zu halten. Und inmitten unseres Sterbens, da wir uns aus dem Sumpf erheben und schmählich in den Sumpf zurücksinken, ist es herrlich und ein Privileg, das zu lieben, was der Tod nicht anrührt. Denn wenn Unheil und Katastrophe diesem Gemälde durch die Zeit gefolgt sind - so hat es auch die Liebe getan. Insofern, als es unsterblich ist (und das ist es), habe ich einen kleinen, leuchtenden, unabänderlichen Anteil an dieser Unsterblichkeit. Es existiert und es wird weiter existieren. Und ich füge meine eigene Liebe der Geschichte der Menschen hinzu, die schöne Dinge geliebt und auf sie geachtet und sie aus dem Feuer gezogen und sie gesucht haben, als sie verloren waren, und die sich bemüht haben, sie zu erhalten und zu bewahren, während sie sie buchstäblich von Hand zu Hand weiterreichten, strahlend singend aus den Trümmern der Zeit zur nächsten Generation von Liebenden und zur nächsten.

"Der Distelfink", Donna Tart

11/28/2014

imPact

Poster zu Tim Etchells "Vacuum Days (The Show Stoppers" Plakatausstellung im Pact Zollverein)
Ein ImPact Wochenende im Zollverein. And perhaps a solution for "very difficult situations":
"Cooporation oils the machinery of getting things done, and sharing with others can make up for what we may individually lack. Cooperation is embedded in ou genes, but cannot remain stuck in routine behavior; it needs to be developed and depend. This is particularly true when we are dealing with people unlike ourselves ; with them, cooperation becomes a demanding effort."
            Richard Sennett, Together: The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation


1/13/2013

eintritt in die zone/entrée en zone

Stalker, Tarkovski, 1979
bald werde ich von der schriftlichen zone in die filmische übergehen, von der vorlage der brüder strugatzki, picknick am wegesrand, aus dem jahr 1972 zu tarkovskis filmadaptation stalker. es benötigt keiner unglaubwürdigen, fantastischen mweltraummonster, keiner überschallgeschwindigkeit und anderer technischer scienci-fi spitzfindigkeiten, um gute fiktion zu kreieren, es reicht das kosmisch ungewisse, das hier beschrieben und umschrieben wird, irgendeine kraft in der zone, die nicht von dieser welt zu sein scheint. das kosmische wird teil der menschlichen geschichtsschreibung, beinahe selbstverständlich und doch ...
und nach einiger ruhe trete auch ich von einer zone in die andere.

12/28/2012

monopolstellung

in der sehr zu empfehlenden letzten Ausgabe des Monopol-Magazins, mit dem ich mich quasi bereits in der nahen Zukunft und im Jahr 2013 befinde (es ist das Januarheft), habe ich mein künstlerisches Lieblingsevent für 2012 gefunden, eine Kunstrichtung, die Jerry Saltz, Kunstkritiker des New York Magazines, so schön mit "neoverity" umschreibt. Eine Bitte an Clint Eastwood, verschone uns im kommenden Jahr mit tränenreichen Big-Budgetfilmen und Pseudomoral und widme dich doch lieber deiner Karriere als Kabbaretist.
"Die neue Performancekunstrichtung von Clint Eastwood und Karl Rove – nennen wir sie neoverity (neue Wahrheit) –, die am Abend des 30. August erstmals aufgeführt wurde, als der Schauspieler Clint Eastwood auf dem Nominierungsparteitag der US-Republikaner mit einem leeren Stuhl sprach. Der endgültige Durchbruch des Genres war dann der Moment, als der ehemalige Bush-Berater Karl Rove in der Wahlnacht am 6. November gegen 22.30 Uhr seine eigene Wahrheits-Topografie im Raum-Zeit-Kontinuum entwickelte, da er die mathematischen Fakten in der tatsächlichen Zeit für ungültig erklärte. In den Performances von Rove und Eastwood verschmolzen Fantasie, Fakten und Fiktion mit Psychopathologie. Geschichte geschah. Aber fast rückwärts. Wir wurden weniger Zeuge des Erhärtens einer Tatsache, sondern ihrer Verkalkung, fast sofort gefolgt von ihrer Versteinerung."

12/23/2012

ein weihnachtseintrag #1

einen tag vor weihnachten, es regnet (von einem bekannten las ich gerade folgenden kommentar: "14 Grad! Celsius! im Schatten"), von schnee oder eventueller kälte gegen die man sich wappnen müsste kein spur und der weihnachtsbaum trieft auch noch vor der tür vor sich hin... da hilft nur eins, abschalten (es gibt keinen anlass, ins kino zu gehen, das örtliche programm erzeugt ein schaudern, und auch der sonst so große drang, jeder ausstellung, jeder première und kulturneuigkeit der hauptstadt zumindest virtuell zu folgen, ist gleichzeitig mit der steigenden kilometerzahl der entfernung, etwas verebbt), den regen regen sein lassen, sich der lang aufgestauten lektüre widmen und auch mal wieder dem informationsmedium zeitung, das hier unumstößlich jeden tag vor der haustür liegt, wenn man auch vermeiden sollte, sich dabei zu nah dem adventskranz zu nähern und den wochenendteil dieser zeitung anzubrennen. passenderweise klafft nun genau über dem bericht zu der immer weiter auseinandergehenden schere zwischen arm und reich ein großes schwarzes loch, über der millionenangabe. morgen dann soll für einen tag alles elend vergessen sein und aus dem radio wird zur besinnlichung das weihnachtsoratorium und anderes tönen, weihnachtsmärchen und -wunder. und im fernsehen werden wie jedes jahr tschechische märchen ausgestrahlt, aschenputtel wird auch nicht älter, und sicherlich irgendwann auch der christmas carol klassiker von samuel langhorne clemens, beziehungsweise mark twain. so und jetzt habe ich ziemlich kitschig die kurve gekriegt zu mark twains doppelleben als santa claus und einem brief, den er irgendwann um 1870 seiner tochter schrieb, auf ihren wunschzettel an den weihnachtsmann hin. immerhin gibt er in dem brief ganz offen zu, dass santa claus kein amerikaner sei und auch kein engländer,  "for I am a foreigner and cannot read English writing well." soso, das soll mir mal coca cola erklären.

Palace of St. Nicholas.
In the Moon.
Christmas Morning.

My dear Susie Clemens:

I have received and read all the letters which you and your little sister have written me by the hand of your mother and your nurses; I have also read those which you little people have written me with your own hands—for although you did not use any characters that are in grown peoples' alphabet, you used the characters that all children in all lands on earth and in the twinkling stars use; and as all my subjects in the moon are children and use no character but that, you will easily understand that I can read your and your baby sister's jagged and fantastic marks without any trouble at all. But I had trouble with those letters which you dictated through your mother and the nurses, for I am a foreigner and cannot read English writing well. You will find that I made no mistakes about the things which you and the baby ordered in your own letters—I went down your chimney at midnight when you were asleep and delivered them all myself—and kissed both of you, too, because you are good children, well trained, nice mannered, and about the most obedient little people I ever saw. But in the letter which you dictated there were some words which I could not make out for certain, and one or two small orders which I could not fill because we ran out of stock. Our last lot of kitchen furniture for dolls has just gone to a very poor little child in the North Star away up, in the cold country above the Big Dipper. Your mama can show you that star and you will say: "Little Snow Flake," (for that is the child's name) "I'm glad you got that furniture, for you need it more than I." That is, you must write that, with your own hand, and Snow Flake will write you an answer. If you only spoke it she wouldn't hear you. Make your letter light and thin, for the distance is great and the postage very heavy.

There was a word or two in your mama's letter which I couldn't be certain of. I took it to be "trunk full of doll's clothes." Is that it? I will call at your kitchen door about nine o'clock this morning to inquire. But I must not see anybody and I must not speak to anybody but you. When the kitchen doorbell rings, George must be blindfolded and sent to open the door. Then he must go back to the dining room or the china closet and take the cook with him. You must tell George he must walk on tiptoe and not speak—otherwise he will die someday. Then you must go up to the nursery and stand on a chair or the nurse's bed and put your ear to the speaking tube that leads down to the kitchen and when I whistle through it you must speak in the tube and say, "Welcome, Santa Claus!" Then I will ask whether it was a trunk you ordered or not. If you say it was, I shall ask you what color you want the trunk to be. Your mama will help you to name a nice color and then you must tell me every single thing in detail which you want the trunk to contain. Then when I say "Good bye and a merry Christmas to my little Susie Clemens," you must say "Good bye, good old Santa Claus, I thank you very much and please tell that little Snow Flake I will look at her star tonight and she must look down here—I will be right in the west bay window; and every fine night I will look at her star and say, 'I know somebody up there and like her, too.'" Then you must go down into the library and make George close all the doors that open into the main hall, and everybody must keep still for a little while. I will go to the moon and get those things and in a few minutes I will come down the chimney that belongs to the fireplace that is in the hall—if it is a trunk you want—because I couldn't get such a thing as a trunk down the nursery chimney, you know.

People may talk if they want, until they hear my footsteps in the hall. Then you tell them to keep quiet a little while till I go back up the chimney. Maybe you will not hear my footsteps at all—so you may go now and then and peep through the dining-room doors, and by and by you will see that thing which you want, right under the piano in the drawing room-for I shall put it there. If I should leave any snow in the hall, you must tell George to sweep it into the fireplace, for I haven't time to do such things. George must not use a broom, but a rag—else he will die someday. You must watch George and not let him run into danger. If my boot should leave a stain on the marble, George must not holystone it away. Leave it there always in memory of my visit; and whenever you look at it or show it to anybody you must let it remind you to be a good little girl. Whenever you are naughty and somebody points to that mark which your good old Santa Claus's boot made on the marble, what will you say, little sweetheart?

Goodbye for a few minutes, till I come down to the world and ring the kitchen door-bell.

Your loving

Santa Claus

Whom people sometimes call "The Man in the Moon"

12/19/2012

des wahnsinns

es lag im blick/c'est dans le regard
"Ich war nervös, weil Gott das Publikum erregen wollte. Das Publikum war gekommen, um sich unterhalten zu lassen. Es glaubte, ich tanze, um zu unterhalten. Ich habe schreckliche Sachen getanzt. Sie hatten Angst vor mir, und so glaubten sie, ich wolle sie umbringen. Ich wollte niemanden umbringen. Ich liebte alle, doch mich liebte keiner, und das machte mich nervös. Ich war nervös, und so übertrug ich dieses Gefühl auf das Publikum. Das Publikum mochte micht nicht, denn es wollte weg. Da begann ich lustige Sachen zu spielen. Das Publikum begann sich zu amüsieren. Es hatte gemeint, ich sein ein langweiliger Künstler, doch ich zeigte, dass ich lustige Sachen zu spielen vermag. Das Publikum begann zu lachen. Ich begann zu lachen. Ich lachte in meinem Tanz. Das Publikum lachte ebenfalls in meinem Tanz. Das Publikum verstand meinen Tanz, denn es wollte ebenfalls tanzen. Ich tanzte schlecht, denn ich fiel zu Boden, wo ich es nicht hätte tun sollen. Dem Publikum war das egal, denn ich tanzte schön. Es hatte meine Idee verstanden und amüsierte sich. Ich wollte weitertanzen, doch Gott sagte: Genug. Ich hielt inne."

So geht es 278 Seiten lang und mit den Tagebuchaufzeichnungen des Tänzers Vaslav Nijinsky (Urvater des Faun und des Sacre du Printemps) offenbart sich seine ganze Verrücktheit und sein ganzes Genie. "Ich bin ein Gesteskranker, der die Menschen liebt. Meine Geisteskrankheit ist Menschenliebe." Sein Tanz war und blieb für ihn immer, im wörtlichen Sinne, ein Spiel.

10/11/2012

ist das heimat?

Ich sehe diese deutsche Landschaft, sagte Austerlitz, so wie sie von früheren Reisenden beschrieben wurde, den großen, unregulierten, stellenweise über die Ufer getretenen Strom, die Lachse, die sich im Wasser tummeln, die über den feinen Flußsand krabbelnden Krebse; ich sehe die dusteren Tuschzeichnungen, die Victor Hugo von den Rheinburgen gemacht hat, Joseph Mallord Turner, wie er unweit der Mordstadt Bacharach auf einem Klappstühlchen sitzend mit schneller Hand aquarelliert, die tiefen Wasser von Vyrnwy sehe ich und die in ihnen untergegangenen Bewohner von Llanwyddyn, und ich sehe, sagte Austerlitz, das große Heer der Mäuse, von dem es heißt, daß sein graues Gewimmel eine Landplage gewesen sei, wie es sich in die Fluten stürzt und, die kleinen Gurgeln nur knapp über den Wogen, verweiflungsvoll rudert, um auf die rettende Insel zu gelangen.
                                                                                                       w. g. sebald, austerlitz, 2001

9/11/2012

heute angeblich 73 und damals?

Karl Lagerfeld 1970 in St Tropez, via hautefood
hui, soviel haut hat man von dem sonst eher bis zum kehlkopf in schwarz und weiß gekleideten tapferen schneiderlein wohl noch nie gesehen.
und a propos popzeug, über das kraut magazin (herrlich, über die namen von kunst/kultur/mode oder wissenschaftszeitschriften könnte man auch nochmal eine ausführliche recherchearbeit anfertigen),   habe ich von einem neuen papier erfahren, POP, das sich der, überraschung, popkultur widmet, auf wissenschaftlichem niveau, aber bitte dazu auch visuell ansprechend...vielleicht lasse ich das mal einschiffen, um zu sehen, ob die vielen worte versprechen, was sie ankündigen. frankreich könnte sich in sachen zeitschriftenqualität ab und an einen großen stapel druckerzeugnis vom nachbarn abschneiden, wie ich finde.
NACHTRAG: ich habe wohl gestern etwas schnell getippt und mich zwischen brink und kraut verheddert, das kraut magazin wurde natürlich nicht von studenten der ruhr-universität bochum ins leben gerufen. zwischen kunst und wissenschaft bewegt sich das brink magazin. pardon!! brink gehört in jedem fall ebenfalls zu den veröffentlichungen, die sich neben einem hohen wissenschaftlichen anspruch, auch noch gedanken über die art der präsentation und neue darstellungsmöglichkeiten im heft gedanken machen...darin in diesem heft auch der französische philosoph jean-luc nancy über den sprung, später mehr dazu!

8/31/2012

wenigstens etwas

die chancen, in diesem jahr noch die dOCUMENTA (13) zu sehen, bevor es wieder in den 5 jahre dauernden winterschlaf geht, schwindet stündlich, neigt sich mein besuch auf seiten des rheins doch langsam aber notgedrungen schneller dem ende zu als geplant...die arbeit ruft. in berlin konnte ich mir jedoch wenigstens zwei der mittlerweile schon 105 notizbücher beschaffen, aus der reihe 100 notizen - 100 gedanken.
die auswahl war nicht komplett und so viel die wahl auf bereits bekannte namen: édouard glissant & hans ulrich obrist, eine hommage des zweiten an den ersten, der 2011 verstarb. glissant war einer der ersten philosophen, auf den ich zu beginn meines studiums traf, fremde und differenz brannten sich in die vokabularliste.
blick ins heft beim hatjecantz verlag

8/14/2012

gute gespräche

vor eingier zeit habe ich einer freundin ein buch geschenkt. heute schickte sie mir eine passage daraus, die sie für besonders wahr hielt. wie recht sie hat:

"...weil es auf das Tempo der Unterhaltung nicht ankam, sondern darauf, dass jeder Satz beim gegenüber ein Mitdenken auslöste, kein Nach-, sondern Mitdenken, also so etwas wie Phantasie, wie Assoziieren. Dann konnte man glauben, es falle einem dauernd etwas Neues ein, und zwar etwas Neues, das genau passte, eine glänzende Unterhaltung ergab sich also durch das Zusammensetzen kleiner Stücke zu einem gelungenen Mosaik, laufend war man mit der Suche nach den richtigen Teilen beschäftigt, genau, ja, das war es."

                                         (aus: Die große Liebe, Hanns-Josef Ortheil. Dabei lasse man sich nicht von dem Titel abschrecken.)

6/17/2012

der sinn der documenta 13

erklärt von Christoph Menke, Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt (wenn auch nicht die richtige Reiselektüre, entferne ich mich doch mit jedem Kilometer gen Paris wieder weiter von diesem zu fassenden Sinn). Menkes Erklärungen in der aktuellen Zeit lassen mich auch besser verstehen, weshalb sie alle fünf Jahre gerade in Kassel stattfindet, der Stadt im Nirgendwo und unterstreichen, dass die documenta mit Kunst zu tun hat, im Gegensatz zu den unzähligen jährlich stattfindenden Großspektakeln à la Art Basel, die gerade den Jahres-Kunstkreislauf schließt.
© Olaf Kosinsky
"Jede Documenta entwirft einen Begriff der Kunst. Das ist der Sinn der Documenta: Sie fragt, wie und wozu es Kunst gibt. Das unterscheidet sie von allen themen- und ortsbezogenen Ausstellungen und vor allem von den Biennalen der Gegenwartskunst"..."Jede Documenta arbeitet am Begriff der Kunst. Aus diesem Grund ist die Auswahl der Werke weder räumlich noch zeitlich begrenzt".

4/02/2012

tulipes et clafoutis


via kabutar
Véronique, Michel, Annette, Alain
(Entre quarante et cinquante ans)
Un salon.
Pas de réalisme.
Pas d'éléments inutiles.

Véronique: Pommes et poires.
Annette: Pommes et poires?
V: Ma petite recette. Il va être froid, c'est dommage.
A: Pommes poires, c'est la première fois.
V: Pommes poires c'est classique mais il y a un truc.
A: Ah bon?
V: Il faut que la poire soit plus épaisse que la pomme. Parce que la poire cuit plus vite que la pomme.
A: Ah voilà.
Michel: Mais elle ne dit pas le vrai secret.
V: Laisse-les goûtter.
Alain: Très bon. Très bon.
A: Succulent.
V: ...Des miettes de pain d'épice!
A: Bravo.
V: Un aménagement du clafoutis picard. Pour être honnêtte, je le tiens de sa mère.
Alain: Pain d'épice, délicieux... Au moins ca nous permet de découvrir une recette.
V: J'aurais préféré que mon fils ne perde pas deux dents à cette occasion.
Alain: Bien sûr, c'est ce que je voulais dire!
A: Tu l'exprimes curieusement.

extrait de Yasmina Reza Le dieu du carnage, 2007

1/26/2012

lektürempfehlung-erotik und europa

entweder erotik und kino digital
oder aber sich gewissenhaft und auf echtem papier die sz, le monde, el pais oder gazeta wyborcza samt sonderbeilage kaufen und den inneren europäischen schweinehund wachrütteln. gut, die artikel bleiben im rahmen des altbekannten, wenn es um "europabeilagen" geht, interviews mit nahmhaften denkern oder romanciers wie umberto eco, die kanzlerin darf auch ein wörtchen erzählen und das übliche "europäer geben einblick in ihr leben"-ding gibt's auch. aber trotzdem finde ich die idee, einer gemeinsamen "zeitung" gut, wenn es auch noch weit entfernt von etwas wie dem courrier international ist. diesmal sind in jeder beilage andere artikel erschienen, vielleicht wäre es auch interessant, gerade überall dieselben artikel zu veröffentlichen, in der jeweiligen landessprache und dann die reaktionen zu vergleichen. à venir peut-être...

1/09/2012

beilagenerkenntnis #2

heute morgen in der new york times-beilage der süddeutschen: the joy of quiet

Distraction is the only thing that consoles us for our miseries,” the French philosopher Blaise Pascal wrote in the 17th century, “and yet it is itself the greatest of our miseries.”

author: Pico Iyer

12/18/2011

für alle, die am 4. advent

vom bett aus denken wollen. der tschechische medienphilosoph villèm flusser über "das denken vom bett aus", einem essay von 1997, in dem er der frage nachgeht: "Wo nehmen wir eigentlich jeden Morgen den Entschluß her, aus dem Bett aufzustehen?". überhaupt hat sich flusser einige tiefere und diverse gedanken über unseren alltag gemacht, über baumelnde arme, den vergleich von häusern und emmenthaler käse und die verbesserung des paradieses. und wie komme ich dazu, das an einem nachmittag um 15h zu posten? nun ja, die technik war meiner gnädig, ich habe temporäres internet...da steht ja nun der kapp'schen, technischen organausweitung meiner selbst nichts mehr im wege...