«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours

12/19/2012

unterhalb des Mount Tabu

Tabu, Miguel Gomes, 2012
Ich könnte mir keinen passenderen Film für das Jahresende vorstellen als Tabu von Miguel Gomes. Die richtigen Worte wurden hier bereits darüber verloren, obwohl dort nichts verloren ist. Als "Kinematografische Magie" und als "Phantom" beschreibt Nicolas Oxen den Film. Ein Phantom zum Ende oder Anfang der Welt in zwei Tagen, eine Geschichte in der Geschichte, von derer Art man sich mehr wünschen würde. Als Inspirationsquelle diente Murnaus Vorlage aus dem Jahr 1931, in den USA gedreht, unterstütz von dem großen Dokumentarfilmer Robert Flaherty (man sieht es in den Bildern und ist an Flahertys Inuit Nanook erinnert). Tabu, auch wenn bekannt, bezeichnet ein Verbot, etwas zu tun oder auch zu berühren. Das Wort entstammt dem Polynesischen. In Murnaus Film wird das Verbot von dem jungen Matahi und seiner Freundin Rehi gebrochen. Sie soll auf der Insel BoraBora Priesterin werden, was eine Liebe unmöglich macht. Gomes nun verlegt die unmögliche Liebe nach Afrika zu Kolonialzeiten und die Liebenden sind Aurora und Ventura (Aventure, der Name sagt alles, er ist das genaue Gegenbild von Auroras Ehemann, mit Abenteuerhut, hochgekrempelten Ärmeln an muskulösen Armen, Motorrad und einem tiefen Blick, Musik spielen kann er auch), die das Berühren nicht verhindern können. Diese Geschichte ist ein Rückblick, aus dem Lissaboner Jetzt, in dem eine gealterte "Diva" Aurora in ihren letzten Lebenszügen an ihre alte Liebe und ihre tragische Geschichte zurückdenkt. Nachdem der erste Teil die Vorlage der Geschichte darstellt, drei wunderbar miteinander verwobene Frauenschicksale, spricht er im Zweiten in Bildern, lässt erzählen und die Blicke viel sagen. Dem Stummfilm treu und ihm eine véritable Hommage, untermalt Gomes seine Bilder mit den Klaviertönen von Joana Sa (obwohl die Musik mehr Partner als Untermalung ist), einer portugiesischen Klavierspielerin und Komponistin. Zunächst denkt man ein wenig an Gonzalez und sein Solo Piano, aber in leichter. Sa findet die richtigen Töne, zwischen Schwere und Beschwingtheit. Sonst gibt es Jazzklassiker der Epoche, eine Band in weißen Anzügen mit schwarzen Fliegen, an hitzigen Soirées spielend, mit Ausblick auf Savane und Wild. Das könnte alles falsch und kitschig sein und klingen, ist es aber nicht.
Noch ein Wort muss ich übernehmen, der Film hat "Patina" (das Bild oben ist beweisgebend), fühlen, aufsaugen, möchte man jede Lichtfaser, jede Note und nicht mehr heraus aus dem vielfarbigen Schwarz/Weiß, ein Gefühl, das nachhallt im Kopf und vor dem geistigen Auge. So schön und einfach auratisch kann Film sein.
... (quelques jours plus tard) und noch etwas fällt mir ein, wenn ich über die "Patina" des Films nachdenke. Der Film hat Körper, wie ein guter Wein. Den Körper macht die Sprache aus, das Portugiesische, dessen ich zwar nicht mächtig bin, dass sich jedoch sinnlich durch die Gehörgänge schlängelt und sich zugang zum Innern sucht. Das habe ich bereits gedacht, als ich den Film Transeunte von Eryk Rocha im letzten Jahr sah (Sohn von Glauber Rocha). Es ist zwar ein brasilianischer Film, aber für mich sind sich das europäische und das brasilianische Portugiesisch sehr ähnlich in ihrem körperhaften und durchdringenden Klang.


Murnaus "Tabu"

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