«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours

8/22/2013

"dry, cold and transparent, like an ’extra dry’ champagne"



Vier tage Hauptstadt und jetzt endlich kommt Bewegung in die Sache, wenn ich auch bisher nicht wirklich still saß, aber zu neuen Plänen und Kaltwassersprüngen komme ich dann ein anderes mal. Gestern Abend habe ich mich dann doch noch dem eigentlich Grund meines Kommens, Tanz im August, zugewandt, im HAU. Ein getanzter schriftliche Eindruck, in Gedanken an den tanzenden Walser. Wer möchte, kann dies auch hier nachlesen und mehr zum Festival gibt es hier von der ebenfalls schriftlich tanzenden Laura nachzulesen.

Stravinsky hat ein Händchen für das abstrakt Abseitige, für den Zeitgeist schwer Verständliche und gerade darin ist es Zeitgeist, denn seiner Zeit immer voraus. Wie sein Sacre, so ist auch seine kurze Kammermusik-Komposition Octet für acht Blasinstrumente 1923 zunächst auf Unverständnis gestoßen. Heute wird seine Verbindung von Barock und Klassizismus als Beginn einer neuen musikalischen Ära gehandelt. Anders aber als beim Sacre, fand man ihn nun nicht “zu avantgardistisch“ sondern “nicht avantgardistisch genug“, man wollte mehr von dem Wilden im Russen. Dieser selbst sagt von seinem Stück, dass es extra trocken sei, so wie guter Champagner schmecken sollte. Er trifft es damit selbst auf den Punkt, denn das 16-minütige Stück ist delikat. Es geht einzig und allein um die Komposition, die formale Struktur der Instrumente und ihrer Stimmen.
An Ihnen hat sich auch der slowenische Choreograph Iztok Kovač orientiert und mit der EN-KNAP Group eine Dekonstruktion des Stückes vorgenommen, auf allen Ebenen, die ihm sowohl die Komposition als auch die Bühne boten. Daraus entstand Ottetto (8 swings for His Highness). Die Highness ist in diesem Fall das Genie Stravinskys, dem einer der Tänzer, ein großegewachsener muskulöser Brite, einige Ähnlichkeiten mit sich selbst attestiert: sie seien beide chaotisch.
ottetto, en-knap © en-knap


In dieses Chaos nun hat Kovač eine neue Art Ordnung gebracht, ein geordnetes Chaos, eine für das Auge sichtbare Offenlegung des Stücks. Gemeinsam mit einer Dirigentin, acht swingenden Musikern, fünf Tänzern und einem Team aus Medienkünstlern hat er die einzelnen musikalischen Stränge interpretiert, ihnen Bewegungen, Lichtspiele, Videoübertragungen entnommen, um alles in einer schauspielerischen und tänzerischen visuellen Poesie wieder miteinander zu vereinen. Das trockene und angeblich kalte von Stravinskys Octet wirkt hier plötzlich warm, wenn die Lichtkugeln von der Decke hängend über die Bühne schwingen, die Tänzer der Dirigentin im Vorbeihüpfen ein kleines Lächeln zuwerfen und einer der Tänzer unauffällig mit der Querflöte flirtet. Dazu schneiden die choreographischen Elemente den Raum und die Bühne wie ein Dirigierstab die Luft. Die Tänzer, die hier ebenfalls Schauspieler und Erzähler sein können und uns aus ihrem Leben, ihrer Beziehung zu Igor Stravinsky erzählen, bewegen sich, als würden sie selbst auf Notenblättern hin und her tanzen. Im nächsten Moment dann steht alles auf dem Kopf, die EnKnap Group liegt am Boden wie zu Notenschlüsseln angeordnet und wir blicken auf der Videoleinwand „auf sie herab“. Visuelles, strukturiertes und spielerisches Chaos. Kovač ist es gelungen, eine multimediale und multiperspektivische Symphony zu konstruieren, genau so komplex wie die musikalische Vorgabe, jedoch mit Leichtigkeit. Einer Leichtigkeit, die vielleicht Stravinsky selbst auch darin sah, prickelnd wie Champagner, nicht trocken.

(einzig der Ort der Aufführung hätte besser gewählt werden können, denn der flache Publikumsraum des HAU 1 ließ so manchen die Kopfe strecken, wenn am Boden, rechts oder links vom zentralen Bühnenraum die Notentänzer umher sprangen oder in den Kulissen verschwanden, die keine waren.)


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