«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours

10/18/2013

"die sonne lehrte mich, dass die geschichte nicht alles ist"

1957 erhält albert camus den literaturnobelpreis, mit nur 44, zwei jahre später schon sollte er tot sein. ein "mythos", wie iris radisch ihn heute in der zeit beschrieb, anlässlich seines 100. geburtstags am 7. november, "der bestaussehende französische schriftsteller (pers. anm: der noch dazu in der rue madame wohnte, wie konnte man da nicht zum frauenhelden avancieren?) aller zeiten und einer der bedeutendsten denker und autoren seines jahrhunderts." letzteres ist unbestritten und in der tat sah er, zumindest jung, aus, wie der literarische james dean, da kann jean-paul "schrägauge" sartre noch so viele existentialistische antworten geben, an ihn kommt er nicht heran. und überhaupt konnte es auch nur einen schwarzmaler geben. camus war für eine altmodisch schöne sicht der dinge zuständig, ein melancholischer typ, der sich mehr fragen stellt und eher die ruhe des französischen südens gesucht hat, als das "fremde" in paris. radisch zählt auf, was ihm wichtig war: "mut, schönheit, geist, ehre, liebe, körper, leben und denken". und das alles am besten unter den olivenbäumen seiner wahlheimat lourmarin bei aix-en-provence, wo der lavendel duftet und das glück in einem kühlen glas weißwein liegt. 
bref, wie ich dazu komme, dies hier zu schreiben, zwei gedankenwege: der eine führt über das bild, das schwarz-weiße, die bilder von camus und seinen frauen, die den artikel begleiten, das berühmte bild von camus auf seinem balkon, mit der pfeife in der hand. ich kann mir diese welt einfach nicht in farbe vorstellen, das konnte ich noch nie. ich habe das gefühl, dass in meinem visuellen gedächtnis die farbe auch wirklich erst ab der farbfotografie in die welt kam, als wenn einem künstlerisch begabten technikgott plötzlich ein farbtopf ausgelaufen wäre. liest man aber die romane camus - im letzten sommer "noces" (hochzeit des lichts) und die vier darin enthaltenen essays "hochzeit in tipasa", "der wind in djémila", "sommer in algier" und "wüste" - dann ist alles, in der tat, licht und farbe, die welt kann gar nicht schwarz/weiß gewesen sein. 
der zweite weg, der mich heute zu camus brachte und zu iris radisch spurensuche, beginnt bei meiner eigenen familie, denn als ich das datum sah, 1913, wurde mir plötzlich klar: mein großvater ist älter als albert camus. mein großvater wurde 1912 geboren, 1912. verrückt. gut, mein großvater ist auch noch am leben, camus ist es nicht mehr. 
als dieser starb erlebte mein großvater gerade die wohl kaum sehr wilden 60er einer eher kleinen als großen stadt westfalens. die 60er, die kann ich mir da wieder in farbe vorstellen, die zeit davor, einen krieg und dann einen zweiten, aber nicht, die bleiben farblos, immer.
mein großvater hat albert camus nie gelesen und wird ihn vermutlich auch nicht kennen, aber die ruhe, dass der richtige grad an sonneneinstrahlung das leben leichter macht (mir ist schon klar, dass camus unrettbar zerrissen und schwermütig war, aber in lourmarin schien es anders gewesen zu sein), möchte ich beiden attestieren. wäre mein großvater in frankreich aufgewachsen, könnte er vielleicht auch, anstatt ganzer lateinischer texte und sämtlicher gedichte seiner schulzeit, einen text von albert camus auswendig aufsagen. wie kann man sich 100 jahre lang so vieles merken? wie kann man so vieles erlebt haben? oder erleben wir genau so viel, nur ist das bild auf die damalige geschichte ein anderes? naja, da komme ich vom thema ab, aber irgendwie muss man wohl bei dem alter einen weg gefunden haben, "die widersprüche des lebens zu ertragen", wie radisch über camus schreibt.
allen camus liebhabern, die sich an diesem vergleich mit dem alten herrn vendredi stoßen, der bei weitem mit 26 kein literarisches werk vorzuweisen hatte, wie der grandiose camus, mögen mir verzeihen, aber diese zahl, diese jahre und die vorstellung, dass in diesem jahr der 100. geburtstag camus gefeiert wird, einer zahle bei der die meisten sich kaum mehr eine lebende person vorstellen können, haben in mir ein unerwartet gerührtes und berückendes gefühl hervorgerufen.
und vielleicht sollte ich herrn vendredi in der nächsten nächste woche, wenn er 100 und 1 wird, einmal fragen, ob denn die welt schon farbe hatte, früher, als er klein war. 

Keine Kommentare: