«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours

9/16/2012

ich schau dir...

in die augen, gesellschaftlicher verblendungszusammenhang!!! bitte was? später mehr
je te regarde dans les yeux, contexte d'aveuglement social!!!! pardon? à suivre
  
from Volksbühne Berlin on Vimeo.
Unsere Seele, so der deutsch Theaterregisseur René Pollesch, "führt eine Außenbeziehung mit sich selbst" und den Sinn, den wir im Leben, in der Liebe und in Allem suchen und glauben zu kennen, den gibt es nicht. Von dem, von der Liebe, haben wir nur gelesen oder gehört, es ist das konstruierte kollektive Bewusstsein. Vorgetragen, bzw. vorgekörpert und verkörpert hat dies am Samstag Abend im Theatre de Gennevilliers in Paris der Schauspieler Fabian Hinrichs, mit dem das Stück 2010 in der Volksbühne uraufgeführt wurde. Er nimmt die ganze Bühne ein, auratisiert sie, keine Minute ist vergeudet, in diesem ausdrücklich nicht "interaktiven" Theaterstück. Hinrichs rollt sich am Boden, tanzt singt, erklärt, erklärt sich uns und uns uns selbst, unsere eigene Verblendung. Es hört sich nicht danach an, aber lange habe ich im Theater nicht mehr so viel gelacht, hätte am liebsten jeden Satz zweimal gehört, was zum Glück auch oft der Fall war. Das war Theater pur, auch wenn Hinrichs es teilweise mit dem nur französischsprachigen Teil des Publikums (der auf dem Prompter die Übersetzung mitlesen konnte) etwas schwer hatte: "Läuft n bisschen schleppend heute, odr?", fragt er die Souffleuse, die in der ersten Reihe sitzt und ruft kurz danach zu einer neuen Art der Gemeinschaft auf, der Nicht-Gemeinschaft. 
Der "Verblendungszusammenhang", wenn er auch schon sehr viel länger existiert (notgedrungen natürlich), ist an den Gebrauch bei Adorno angelehnt. Demnach: Wir verleugnen allesamt unsere Realität. Den Titel des Abends hat René Pollesch, so sagt er im Interview mit David Sanson, von einem 2001 in Frankfurt stattgefundenen Kongress ("Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! Tagung zur Subjektkonstitution und Ideologieproduktion") und einer daraus entstandenen Publikation. Pollesch nutzt das im Französischen so schön als "contexte d'aveuglement social" übersetzte Wort, mit Hilfe der Biologin Donna Haraway, und die ganze Theoretisierung darum als seine ganz eigene "visuelle Prothese, um die Realität besser sehen/verstehen zu können."
Der Theaterabend nun, so der Regisseur, soll passiv durchlebt werden. Entgegen diesen "scheußlichen" Begriff des "interaktiven" Theaters, setzt er ein "interpassives" (entliehen von dem Phiosophen Robert Pfaller), denn passiv sein ist viel schwieriger, als aktiv. Wir sollen an dem Abend uns selbst als Ballast abwerfen, gar nicht so einfach. Aber wenn einem der Schauspieler auf der Bühne in seinem schwarzen Ganzkörpertrikot die Trockenübung so schön vorschnauft und einem Reclam-Heftchen an den Kopf wirft, wird man in der Tat passiv, sucht man nicht mehr nach ständiger Selbstrealisierung mithilfe irgendwelcher Leitlinien und konstruierter Hilfestellungen, sondern man ist man ist mal nur präsent und in dem Moment und bestaunt mit Hinrich zusammen die grell flackernde Diskokugel, die sich beinahe göttlich (nein, wir wollten ja keine Prothesen mehr), über die Bühne erhebt und genauso schnell verschwindet, wie sie uns erleuchtet hat.
Eine gute Nachtkritik der Uraufführung 2010 gibt es hier...
(Nicht unangesprochen sollte auch die sehr gelungene musikalische Untermalung sein, den Soundtrack (muss es ja jetzt auch zu allem geben), würde ich mir sofort zur eigene Realitätsverleugnung zulegen).