«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours

2/09/2014

dieses Kribbeln

in der Nase, wenn es langsam nach Frühling riecht, einen die Sonne kitzelt und die Gesichter der spazierenden Menschen auf der Straße anders aussehen als sonst ... das gab es heute am Kanal und erinnerte mich an das Gefühl, das sonst erst viel später kommt und das ich im letzten Jahr versucht habe, in seiner dionysischen Form zu fassen:
ce fourmillement dans le nez, quand l'odeur printanière arrive, quand le soleils nous chatouille et quand les visages des gens se promenant semble changer ...  voilà ce qui s'est passé aujourd'hui en bord de canal et m'a rappelé un sentiment qui habituellement n'arrive que bien plus tard et que j'ai tenté de formulé dans son apparence dionysiaques l'année dernière (article uniquement publié en Allemand):

Ein dionysischer Spaziergang

Ein Rasen, das mit einem unangekündigten Stolpern beginnt: jedes Jahr überkommt mich ein Gefühl, das immer dasselbe bleibt und meinen Körper doch immer wieder unerwartet packt. Es bewegt sich etwas in mir, der Bauch ist leicht und unruhig, ja, der Körper stolpert. Ich kenne das Gefühl, nur habe ich jetzt nicht damit gerechnet. Die ersten lauen Sonnenstrahlen ziehen mich hinaus in die Welt. Es ist so, als fahre der antike Gott Dionysos in mich hinein. Der Gott des Weines, Gott des leidenschaftlichen Rausches, der von tanzenden Weibern umringt wird. Ich selbst werde von Geistern begleitet, als ich die Treppe heruntergehe. Er treibt mich an, zum ersten Spaziergang des Frühlings. Jedes Jahr fühlt es sich an wie das erste Mal.

Ich gehe nirgends hin, habe kein festes Ziel und keine festgelegte Zeit. Ein Spaziergang ist wie das Reisen, besser: der Weg des Reisens. Suspendu dans le temps, eine Aufhebung der Zeit, ein Stillstand. Ich hänge in der Zeit und doch irgendwie zwischen dem Davor und dem Danach. Ich weiß, dass die Zeit trotz allem vergeht, doch das ist jetzt nicht wichtig. Wohin genau es geht, weshalb und für wie lange? Fragen, die keine Rolle mehr spielen, denn ein Gefühl kennt keine Zeitangaben.
Spaziergänge und Reisen erleichtern. Probleme, die bis dahin welche waren, sind keine mehr. Termine, zeitliche Abhängigkeiten, alles löst sich im Wohlwollen des Moments auf, dem man sich ohne Widerstand hingeben muss. Denn ein Spaziergang in Hast und Eile ist wie ein Bild mit geschlossenen Augen zu betrachten – man verpasst das Wesentliche. Wäre Friedrich Nietzsche mein Begleitgeist, würde er mir zurufen, dass sich die Natur nur „im dionysischen Rausche, im ungestümen Durchrasen aller Seelen-Tonleitern bei narkotischen Erregungen oder in der Entfesselung der Frühlingstriebe (...) in ihrer höchsten Kraft“ äußert. Mein Körper, durch dessen Fasern sich ein „Wonnegefühl des Daseins“ zieht, erkennt diese höchste Kraft. Plötzlich erkenne ich, dass ich das Erlebte wieder erlebe.

Es offenbart sich ein grandioses Spektakel. Mich ergreift der allererste Rausch des neuen Jahres – er soll mich wach, sehend und fühlend machen. Ein magischer Zustand, in dem es sich aufzugehen lohnt und den ich danach bei jedem Spaziergang immer wieder vergeblich suche. Ein Spaziergang ist der Beginn einer Reise, eines schweifenden Blicks und eines Gefühls. Die Welt wird wohl auch ohne all diese Momente weiter existieren, doch vielleicht ist es auch – wenn wir es denn zulassen – der Beginn einer Verzauberung, die ausgerechnet uns rasend machen will.

Der Text ist in der zweiten Ausgabe des Magazins Die Epilog - Die Wiederverzauberung der Welt erschienen, im Oktober 2013.
Le texte a été publié dans le deuxième édition du magazine Die Epilog - Le réenchantement du monde, en octobre 2013.

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