«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours

2/11/2013

anwesend in abwesenheit / présence en absence #2

5. Tag auf der Berlinale, 1. Tag der Rückblicke
5ème journée de la Berlinale, 1ère journée de cette rétrospective
(Gastbeitrag von/Rédactrice invitée Kristina Lutscher)



Tag 1 – First Impressions

Fenster/Fenêtre Friedrichstadtpalast @ K. L. 
Menschenmengen und Festivals sind zwei symbiotisch miteinander verbundene Einheiten, die sich gegenseitig zu Höchstleistungen treiben können – je mehr Publikum, desto mehr Aufwand, desto mehr meist umso verwirrteres Publikum. Die Vorteile einer Akkreditierung sind hierbei zwar nicht kürzere Schlangen, aber zumindest frühere Ticketschalteröffnungszeiten, was den verstörenden Anblick von in Schlafsäcken vor Ticketverkaufsstellen kampierenden Besuchern erklärt. Don't believe the Hype.

W imie... - Samstag 09.02.13, Friedrichstadt-Palast, 9.30 Uhr, Regie: Malgoska Szumowska
Thematisierung von unterdrückter Homosexualität in religiösen Gemeinschaften ist mittlerweile filmisch erschlossenes Gebiet („Du sollst nicht lieben“ (2010) ist Beispiel eines Erfolgs aus jüngerer Zeit). Ein schwuler Priester in einem polnischen Provinzdorf sticht hier nicht als Neuland hervor. Sein Arbeitgeber versetzt den an sich und der Welt zweifelnden Jugendarbeiter Gottes von einem Ort zum nächsten sobald – wie nicht anders zu erwarten – jemand von den weggesperrten Emotionen Wind bekommt. Der Wettbewerbsbeitrag reiht bekannte und weniger zu erwartende Szenen aneinander wie ein Bilderbuch, alltägliche Praktiken inszenierter Männlichkeit und Klischees provinzieller Machtstrukturen werden uncodiert in Bauarbeiten, Armdrücken oder Fußballspielen inszeniert. Weshalb „In the name of...“ trotzdem sehenswert war, entschlüsselt sich in den komischen Momenten, in denen Bilder die Narration ironisieren und kommentieren oder die Protagonisten sich urplötzlich von ihren bekannten Verhaltensmustern lösen, beispielsweise in einer Jagd durch ein Maisfeld, während der Priester Adam und Schützling Łukasz, zwei Primaten mimend, sich irgendwo zwischen Albernheit und Liebesspiel bewegen. Das Ende pointiert ambivalent und vielleicht zynisch den einzigen Ausweg eines Homosexuellen in Zeiten gesellschaftlicher Unterdrückung: im Priesterseminar, allein unter Männern.

Beilagen/Garnitures:

State 194 – Samstag 09.02.13, Cinestar,14.30 Uhr, Dan Setton
Doku über Palästinas Versuch zum 194ten Staat der Vereinten Nationen zu werden. Im neoklassischen Dokumentar-Stil zwischen historischer und aktueller found footage Aufnahme, talking heads Interviews und klarer Windrichtung: Optimismus trotz allem.

None Shall Escape (1944) , 09.02.13, CinemaxX, 16.30 Uhr, Regie: André de Toth
Prophetische Inszenierung eines Nazi-Schauprozesses bevor die Nürnberger Prozesse noch gedacht worden waren. Filmisch ein hollywoodianisches Gerichtsdrama mit narrativ unterstützenden Flashbacks, aber zwischendurch kurze Anflüge von außergewöhnlicher Weitsicht, Lichtinszenierung und einem unerwarteten V-Effekt zum Schluß.

Fynbos, 09.02.13, 20.00 Uhr, Cubix, 20.00 Uhr Regie: Harry Patramanis
Die herausragende Bildqualität und Kamerainszenierung verdient mehr Aufmerksamkeit als ihr hier zugestanden werden kann und die verschiedenen narrativen Elemente, die sich nicht nur auf Handlungsfolgen beschränken, sondern auch in der Landschaft, Architektur des Hauses, den Objekten und Körperbeziehungen ausdrücken, können vom Zuschauer selbst verschiedenst zu einem Erzählstrang geflochten werden. Eine erneute Lektüre von Antonionis „L'Avventura“ (Hommage? Zitat? Remake?) wird empfohlen.  

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