«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours
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2/22/2013

anwesend in abwesenheit #5 / présence en absence #5

Eine letzte Postkarte aus Berlin (nach techn. Schwierigkeiten leider auch etwas verzögert veröffentlich)
Dernière carte postale de Berlin
Tag 5 - 6
Jours 5 - 6
ein Gastbeitrag / rédactrice invitée Kristina Lutscher

Die nennenswerten Sichtungen der letzten Berlinale Tage knüpfen fast nahtlos an die Dokumentation Fifi howls from happiness an. Politik und Kunst dominieren den Fokus des Interesses. So beispielsweise in Helio Oiticica, Arsenal, 17.30 Uhr, 14.02.13, Regie: Cesar Oiticica Filho. Der Titel ist gleichzeitig Name des brasilianischen Künstlers, dem diese Hommage gilt. Auch wenn der Begriff Collage hier schon verwendet wurde: in diesem Falle ist er besonders zutreffend, denn ein Großteil des Films besteht aus Archivmaterial, Audioaufnahmen und Fotografien, die wenigen eigens für ihn gedrehten Szenen verschwinden im Sog dieser Bilder. Es wird explizit keine Geschichte oder Biografie erzählt, sondern eine Annäherung versucht an einen Künstler der so sehr sein künstlerisches Werk ist, wie er eine Persönlichkeit ist.

Pardé (Closed Curtains), 13.02.13, 9.30 Uhr Friedrichstadtpalast Regie: Jafar Panahi
(Jafar Panahi, dem vom iranischen Regime die Ausreise, sowie die Arbeit verboten wurde, konnte nicht an der Berlinale teilnehmen. Jafar Panahi, interdit de sortir du pays et de travail par le régime iranien, n'a pu assisté à cette Berlinale)

Die Kamera blickt durch eine Gitter auf eine Straße am Meer, beobachtet die Ankunft eines Mannes. Er betritt das Haus und wird es bis kurz vor Schluss nicht mehr verlassen. Dazwischen kleine Ereignisse – es wird gebaut, zerstört und repariert. Der Mann und sein geretteter Hund befinden sich im Exil, denn Hunde sind in der Öffentlichkeit verboten, genauso wie allzu ausgelassene Feiern, die eine junge Frau im Haus stranden lassen. Nach und nach wird das teilweise unerklärliche Verhalten der Charaktere narrativ plausibel, die Aktionen als komplexe aber nicht verwirrende Handlungsabläufe dargelegt. Die drei Charaktere bevölkern das Haus und den Geist des sich selbst darstellenden Regisseurs Jafar Panahi. Die symbolisch von der Iranischen Gesellschaft exilierte Kamera verlässt nie das Gebäude, das auch außerhalb der filmischen Wahrnehmung Panahi gehört, und schafft eine Räumlichkeit, die sich über die Leinwand hinaus ausdehnt. Das Blickfeld fängt oft nur einen kleinen, meist statischen Ausschnitt des Geschehens ein, während sich Subjekte und Handlungen durch ihn bewegen oder nur akustisch präsent sind. Die politische Ebene entfaltet sich erst abschnittsweise und wird noch brisanter durch die erfolglosen Proteste von Prominenten und Bittreden deutscher Politiker, den Regisseur zur Berlinale ausreisen zu lassen. Scheinbar Reales und scheinbar Imaginiertes werden so leicht verwoben, dass man sich etwas erstaunt fragt was sich zuerst ereignete: der Film, oder die politische Reaktion auf den Film, die in ihm dann wieder gespiegelt wird.

2/16/2013

I'm a stoned whore

and I'm not ashamed of it."

Portrait des Künstlers Jason Holliday von Shirley Clarke. Aus dem Jahr 1967 und 2013 auf der Berlinal, im Forum. 
Portrait de l'artiste Jason Holliday de Shirley Clarke. Un film de 1967 et en 2013 il passe au forum de la Berlinale.

anwesend in abwesendheit # 4 /présence en absence #4

Tag 4: Suchen
Jour 4: Recherche
(Gastbeitrag/rédactrice invitée: Kristina Lutscher)

Berlinale, das bedeutet ein kontinuierlicher Suchprozess. Nach Bahnstation, Kinos, den korrekten Kinosälen, Sanitäranlagen oder freiem W-Lan. Eine Suche löst die andere ab, man treibt in einer fragilen Blase durch die frostigen Straßen und muss sich in Acht nehmen diese nicht durch zufällige Freizeit zum Platzen zu bringen. Irgendwann realisiert man dann, dass das Filmschauen selbst eine Suche ist, wie die eines Süchtigen, der nach immer dem nächsten, noch besseren Trip sucht. We are high on movies.

La Berlinale: c'est à dire un procès de recherche en continuité. On cherche la prochaine station de métro, le bon cinéma, la bonne salle, les installations sanitaires et un accès libre à internet. Une recherche remplace l'autre, on est dans un bulle fragile qui nous transporte dans les rues glaciale et gare à ceux qui la brise par un peu de temps libre et de loisirs. Puis même le fait de regarder des films s'avère comme une recherche. La recherche d'un toxico en quête du prochain trip. We are high on movies. 

Fifi az Khoshhali zooze mikeshad (Fifi howls from happiness), 12.02.13, 12.00 Uhr?, Cinestar, Regie: Mitra Farahni

Der Künstler Bahman Mohassess ist ein Phantom. Sein inspirierender Einfluss auf iranische Künstler war und ist enorm, auf dem Kunstmarkt und in der nationalen sowie internationalen Museumslandschaft sind ein Großteil seiner Werke zerstört - vom herrschenden politischen System oder ihm selbst. Eine Filmemacherin begab sich auf eine drei Jahre lange Suche, während dieser sie den oft für tot gehaltenen Künstler in Rom aufspürte und eine komplexe künstlerisch-freundschaftliche Beziehung aufbaute. Schon nach kurzer Zeit zieht der charismatische und cholerische Herrscher eines Hotelapartements den Dokumentationsprozess an sich, entfaltet seinen unvergleichlichen Humor und seine extremen Ambivalenzen mal bewusst, mal unbedarft vor Kamera und Mikrofon. Farahni schafft es zwar die Fragmente zu einer vielschichtigen Collage zu fügen, schlussendlich bestimmen jedoch immer Zerstörung und Tod als dominante Stränge den Gesamtverlauf - bis zu einem tragischen Ende, mit dem der Film zum allerletzten Dokument über Mohassess wird. Und gleichzeitig zu seinem letzten künstlerischen Werk.

2/13/2013

anwesend in abwesenheit / présence en absence #3

2. und 3. Tag der Berlinale (Filme, die garantiert nicht in der Zeitung rezensiert werden), gecampt wird immer noch
2ème et troisième journée de la Berlinale, on campe toujours
(Gastbeitrag von/Rédactrice invitée Kristina Lutscher)
© K. L.
Tag 2 –3 Highlights und Enttäuschungen

Ein bemerkenswertes Phänomen in den als Festivalgelände okkupierten Gebäudeschluchten um den Potsdamer Platz herum sind die regelmäßig auftretenden Menschenwucherungen. Vor Türen, neben Gebäuden, in Gebäude hinein, im Sonderfall stehen sie an gleichfalls mysteriös platzierten Bauzäunen entlang - wofür sie sich jedoch ansammeln ist meist unklar.
Man kann aber davon ausgehen, dass sie ihren stillen Protest gegen digitalen Ticketkauf, gegen Abschirmung von Personen öffentlichen Interesses oder freie Platzwahl nicht als offizielle Demonstration angemeldet haben. Berlin nimmt es – ausnahmsweise – gelassen. Ich für meinen Teil lies mich währenddessen beeindrucken, langweilen und nachdenklich stimmen.

Kino von der anderen Seite der Welt 

2/11/2013

anwesend in abwesenheit / présence en absence #2

5. Tag auf der Berlinale, 1. Tag der Rückblicke
5ème journée de la Berlinale, 1ère journée de cette rétrospective
(Gastbeitrag von/Rédactrice invitée Kristina Lutscher)



Tag 1 – First Impressions

Fenster/Fenêtre Friedrichstadtpalast @ K. L. 
Menschenmengen und Festivals sind zwei symbiotisch miteinander verbundene Einheiten, die sich gegenseitig zu Höchstleistungen treiben können – je mehr Publikum, desto mehr Aufwand, desto mehr meist umso verwirrteres Publikum. Die Vorteile einer Akkreditierung sind hierbei zwar nicht kürzere Schlangen, aber zumindest frühere Ticketschalteröffnungszeiten, was den verstörenden Anblick von in Schlafsäcken vor Ticketverkaufsstellen kampierenden Besuchern erklärt. Don't believe the Hype.

W imie... - Samstag 09.02.13, Friedrichstadt-Palast, 9.30 Uhr, Regie: Malgoska Szumowska
Thematisierung von unterdrückter Homosexualität in religiösen Gemeinschaften ist mittlerweile filmisch erschlossenes Gebiet („Du sollst nicht lieben“ (2010) ist Beispiel eines Erfolgs aus jüngerer Zeit). Ein schwuler Priester in einem polnischen Provinzdorf sticht hier nicht als Neuland hervor. Sein Arbeitgeber versetzt den an sich und der Welt zweifelnden Jugendarbeiter Gottes von einem Ort zum nächsten sobald – wie nicht anders zu erwarten – jemand von den weggesperrten Emotionen Wind bekommt. Der Wettbewerbsbeitrag reiht bekannte und weniger zu erwartende Szenen aneinander wie ein Bilderbuch, alltägliche Praktiken inszenierter Männlichkeit und Klischees provinzieller Machtstrukturen werden uncodiert in Bauarbeiten, Armdrücken oder Fußballspielen inszeniert. Weshalb „In the name of...“ trotzdem sehenswert war, entschlüsselt sich in den komischen Momenten, in denen Bilder die Narration ironisieren und kommentieren oder die Protagonisten sich urplötzlich von ihren bekannten Verhaltensmustern lösen, beispielsweise in einer Jagd durch ein Maisfeld, während der Priester Adam und Schützling Łukasz, zwei Primaten mimend, sich irgendwo zwischen Albernheit und Liebesspiel bewegen. Das Ende pointiert ambivalent und vielleicht zynisch den einzigen Ausweg eines Homosexuellen in Zeiten gesellschaftlicher Unterdrückung: im Priesterseminar, allein unter Männern.

2/10/2013

anwesend in abwesenheit / présence en absence

das Zitat von Stéphane Bouquet vor einigen Tagen unterstreicht den fließenden Übergang zwischen Tanz und Film, verbunden durch den Körper. Das Herz dieses Filmkörpers schlägt seit Donnerstag wieder in Berlin, zur 63. Berlinale, in diesem Jahr unter Vorsitz des chinesischen Regisseurs Wong Kar-Wai (der Mann, der mit Karl Lagerfeld die Manie der schwarzen Sonnenbrille teilt, war heute Vormittag auf Arte war, interviewt von Vincent Josse in einem der raren guten Interviewformate des Fernsehens, Square. zum Visionieren einfach A SUIVRE klicken). Die frostigen Temperaturen haben mich zwar nicht angezogen, dafür aber die warmen und dunklen Kinosäle, das Cocon der Bilderhöhle umso mehr. Immerhin bietet die Pariser Cinémathèque auch etwas Filmflair und ich übergebe für einige Eindrücke en direct von dem Festival, das Tilda Swinton seit gefühlten 600 Jahren bereits besucht, an eine Gastschreiberin, die jeden morgen den eisigen Temperaturen trotzt, um sich, mit einer Akkreditierung bewaffnet, die Kinokarten für den nächsten Tag zu sichern, merci für die Eindrücke. Wettbewerbsfilmrezensionen wird es dabei allerdings nicht geben, denn unser Gast wird sich in die Kinosäle begeben, die neue, kleinere und vielleicht noch unentdeckte Filmfundstücke bereithalten. Noch mehr lesen, sehen und hören, kann man auf dem guten Berlinaleblog des Perlentauchers, in der SMS-Berichterstattung des Cargo-Magazins, auf dem Fragmentfilm-Blog oder dem Blog der Berlinale im Dialog, en francais et en allemand, (neben den klassikern der sz und der zeit, wo katja nicodemus oder tobias kniebe ihre eindrücke teilen), auf dem gerade Thomas Arslans Westernversuch mit Nina Hoss den Ritt durch die Wüste nicht so gut überstanden hat.

la citation de Stéphane Bouquet il y a quelques jours symbolise une transition sans faute entre danse et film, reliés par le corps. Le coeur de ce corps filmé se trouve momentanément à Berlin, où il bat pour la 63ème édition du festival de cinéma Berlinale, cette année sous l'égide du grand Wong Kar-Wai (l'homme qui partage avec Karl Lagerfeld l'excès des lunettes de soleil était ce matin sur Arte, dans Square, interviewé par Vincent Josse dans ce que la télé a comme un des rares bons format d'interviews en ce moment, après A SUIVRE). Les températures bien loin d'un agréable zéro ne m'ont pas attirer, néanmoins j'aurai aimé me retirer dans une des salles de cinéma chauffée et noir, dans le cocon d'une grotte à image. Heureusement que la cinémathèque parisienne propose une peu de flair de remplacement et je peux sans rancune remettre les impressions du festival, auquel Tilda Swinton a l'impression d'assister depuis 600 ans déjà, à ma rédactrice invitée, qui boude le verglas sur le Potsdamer Platz pour acquérir les places des projections du jours. Merci de partager ta Berlinale! (la Berlinale en allemand). Cependant il n'y aura pas de critiques de films en compétition, car notre invité est à la recherche d'écumes cinématographiques nouvelles, plus petites et bien inconnues...encore. 


Postcards from Berlin
ein Gastbeitrag von / Rédactrie invitée Kristina Lutscher
© K. Lutscher
Tag 0 – Ankunft/Exposition

Berlin begrüßt mit Schnee, Wind und Stofftaschen, die wie jedes Jahr noch ein bisschen einfacher und unpraktischer geworden sind. Ich antworte mit einer simplen selbstgesetzten Rahmenbedingung: schau um dein Leben. Ganz im Sinne des Franzosen Gilles Deleuzes reicht es nicht, müde zu werden, sondern es soll bis zur Erschöpfung alles getan werden was möglich ist:

I used to be darker – Freitag 08.02.13, Delphi Theater 21.30 Uhr, Regie: Matt Porterfield

„Familiendrama“ - ein Wort ist beschreibend genug, um alle richtigen Assoziationen hervorzurufen: Trennung, Liebeskummer, Generationenkonflikte, Schwangerschaft. Die Nichte eines sich im Auflösungsprozess befindenden Musikerehepaars taucht bei unangekündigter Reise nach Übersee im falschen Moment vor Ort auf, mit dem Versuch, die unglückliche, selbstverständlich in Schwangerschaft endende Liebesaffäre zu verdauen. Die Handlung schrammt mitunter haarscharf am Klischee vorbei und doch erzeugen die langsamen Szenen für genug empathische Regungen, um sich nicht abgestoßen oder gelangweilt zu fühlen. Wahrscheinlich weil der Film weniger mit einer typischen Familienstudie gemein hat, als mit einer musikalischen Studie in menschlichem Umfeld. Situationen ergeben Lieder, Lieder Stimmungen, Stimmungen rufen Situationen hervor. Musik wird gemacht, gehört, performt. Und über all dies legt sich ein weißer Schleier, eine puderfarbene Oberfläche auf allen Bildern. Wie der Blick durch einen Spiegel im ersten Stadium des Erblindens oder wie eine Schicht feinen Mehlstaubs, der sich auf alles und alle gelegt hat. Die gleißende Sonne eines amerikanischen Küstensommers scheint dadurch noch intensiver Wärme auszustrahlen und passt doch nicht zur Kühle des Unausgesprochenen, zur Wut, zur Furcht, zur Frustration, zur Verzweiflung. Und doch, es ist kein pessimistischer, kein dunkler Film. Die erwartete Katastrophe, die Katharsis oder Auflösung fällt aus. Was bleibt ist einfach wie immer - nur Leben.