«Je ne veux pas gagner ma vie, je l’ai.» Boris Vian, L'écume des jours
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2/22/2013

anwesend in abwesenheit #5 / présence en absence #5

Eine letzte Postkarte aus Berlin (nach techn. Schwierigkeiten leider auch etwas verzögert veröffentlich)
Dernière carte postale de Berlin
Tag 5 - 6
Jours 5 - 6
ein Gastbeitrag / rédactrice invitée Kristina Lutscher

Die nennenswerten Sichtungen der letzten Berlinale Tage knüpfen fast nahtlos an die Dokumentation Fifi howls from happiness an. Politik und Kunst dominieren den Fokus des Interesses. So beispielsweise in Helio Oiticica, Arsenal, 17.30 Uhr, 14.02.13, Regie: Cesar Oiticica Filho. Der Titel ist gleichzeitig Name des brasilianischen Künstlers, dem diese Hommage gilt. Auch wenn der Begriff Collage hier schon verwendet wurde: in diesem Falle ist er besonders zutreffend, denn ein Großteil des Films besteht aus Archivmaterial, Audioaufnahmen und Fotografien, die wenigen eigens für ihn gedrehten Szenen verschwinden im Sog dieser Bilder. Es wird explizit keine Geschichte oder Biografie erzählt, sondern eine Annäherung versucht an einen Künstler der so sehr sein künstlerisches Werk ist, wie er eine Persönlichkeit ist.

Pardé (Closed Curtains), 13.02.13, 9.30 Uhr Friedrichstadtpalast Regie: Jafar Panahi
(Jafar Panahi, dem vom iranischen Regime die Ausreise, sowie die Arbeit verboten wurde, konnte nicht an der Berlinale teilnehmen. Jafar Panahi, interdit de sortir du pays et de travail par le régime iranien, n'a pu assisté à cette Berlinale)

Die Kamera blickt durch eine Gitter auf eine Straße am Meer, beobachtet die Ankunft eines Mannes. Er betritt das Haus und wird es bis kurz vor Schluss nicht mehr verlassen. Dazwischen kleine Ereignisse – es wird gebaut, zerstört und repariert. Der Mann und sein geretteter Hund befinden sich im Exil, denn Hunde sind in der Öffentlichkeit verboten, genauso wie allzu ausgelassene Feiern, die eine junge Frau im Haus stranden lassen. Nach und nach wird das teilweise unerklärliche Verhalten der Charaktere narrativ plausibel, die Aktionen als komplexe aber nicht verwirrende Handlungsabläufe dargelegt. Die drei Charaktere bevölkern das Haus und den Geist des sich selbst darstellenden Regisseurs Jafar Panahi. Die symbolisch von der Iranischen Gesellschaft exilierte Kamera verlässt nie das Gebäude, das auch außerhalb der filmischen Wahrnehmung Panahi gehört, und schafft eine Räumlichkeit, die sich über die Leinwand hinaus ausdehnt. Das Blickfeld fängt oft nur einen kleinen, meist statischen Ausschnitt des Geschehens ein, während sich Subjekte und Handlungen durch ihn bewegen oder nur akustisch präsent sind. Die politische Ebene entfaltet sich erst abschnittsweise und wird noch brisanter durch die erfolglosen Proteste von Prominenten und Bittreden deutscher Politiker, den Regisseur zur Berlinale ausreisen zu lassen. Scheinbar Reales und scheinbar Imaginiertes werden so leicht verwoben, dass man sich etwas erstaunt fragt was sich zuerst ereignete: der Film, oder die politische Reaktion auf den Film, die in ihm dann wieder gespiegelt wird.

2/16/2013

anwesend in abwesendheit # 4 /présence en absence #4

Tag 4: Suchen
Jour 4: Recherche
(Gastbeitrag/rédactrice invitée: Kristina Lutscher)

Berlinale, das bedeutet ein kontinuierlicher Suchprozess. Nach Bahnstation, Kinos, den korrekten Kinosälen, Sanitäranlagen oder freiem W-Lan. Eine Suche löst die andere ab, man treibt in einer fragilen Blase durch die frostigen Straßen und muss sich in Acht nehmen diese nicht durch zufällige Freizeit zum Platzen zu bringen. Irgendwann realisiert man dann, dass das Filmschauen selbst eine Suche ist, wie die eines Süchtigen, der nach immer dem nächsten, noch besseren Trip sucht. We are high on movies.

La Berlinale: c'est à dire un procès de recherche en continuité. On cherche la prochaine station de métro, le bon cinéma, la bonne salle, les installations sanitaires et un accès libre à internet. Une recherche remplace l'autre, on est dans un bulle fragile qui nous transporte dans les rues glaciale et gare à ceux qui la brise par un peu de temps libre et de loisirs. Puis même le fait de regarder des films s'avère comme une recherche. La recherche d'un toxico en quête du prochain trip. We are high on movies. 

Fifi az Khoshhali zooze mikeshad (Fifi howls from happiness), 12.02.13, 12.00 Uhr?, Cinestar, Regie: Mitra Farahni

Der Künstler Bahman Mohassess ist ein Phantom. Sein inspirierender Einfluss auf iranische Künstler war und ist enorm, auf dem Kunstmarkt und in der nationalen sowie internationalen Museumslandschaft sind ein Großteil seiner Werke zerstört - vom herrschenden politischen System oder ihm selbst. Eine Filmemacherin begab sich auf eine drei Jahre lange Suche, während dieser sie den oft für tot gehaltenen Künstler in Rom aufspürte und eine komplexe künstlerisch-freundschaftliche Beziehung aufbaute. Schon nach kurzer Zeit zieht der charismatische und cholerische Herrscher eines Hotelapartements den Dokumentationsprozess an sich, entfaltet seinen unvergleichlichen Humor und seine extremen Ambivalenzen mal bewusst, mal unbedarft vor Kamera und Mikrofon. Farahni schafft es zwar die Fragmente zu einer vielschichtigen Collage zu fügen, schlussendlich bestimmen jedoch immer Zerstörung und Tod als dominante Stränge den Gesamtverlauf - bis zu einem tragischen Ende, mit dem der Film zum allerletzten Dokument über Mohassess wird. Und gleichzeitig zu seinem letzten künstlerischen Werk.

2/13/2013

anwesend in abwesenheit / présence en absence #3

2. und 3. Tag der Berlinale (Filme, die garantiert nicht in der Zeitung rezensiert werden), gecampt wird immer noch
2ème et troisième journée de la Berlinale, on campe toujours
(Gastbeitrag von/Rédactrice invitée Kristina Lutscher)
© K. L.
Tag 2 –3 Highlights und Enttäuschungen

Ein bemerkenswertes Phänomen in den als Festivalgelände okkupierten Gebäudeschluchten um den Potsdamer Platz herum sind die regelmäßig auftretenden Menschenwucherungen. Vor Türen, neben Gebäuden, in Gebäude hinein, im Sonderfall stehen sie an gleichfalls mysteriös platzierten Bauzäunen entlang - wofür sie sich jedoch ansammeln ist meist unklar.
Man kann aber davon ausgehen, dass sie ihren stillen Protest gegen digitalen Ticketkauf, gegen Abschirmung von Personen öffentlichen Interesses oder freie Platzwahl nicht als offizielle Demonstration angemeldet haben. Berlin nimmt es – ausnahmsweise – gelassen. Ich für meinen Teil lies mich währenddessen beeindrucken, langweilen und nachdenklich stimmen.

Kino von der anderen Seite der Welt 

2/11/2013

anwesend in abwesenheit / présence en absence #2

5. Tag auf der Berlinale, 1. Tag der Rückblicke
5ème journée de la Berlinale, 1ère journée de cette rétrospective
(Gastbeitrag von/Rédactrice invitée Kristina Lutscher)



Tag 1 – First Impressions

Fenster/Fenêtre Friedrichstadtpalast @ K. L. 
Menschenmengen und Festivals sind zwei symbiotisch miteinander verbundene Einheiten, die sich gegenseitig zu Höchstleistungen treiben können – je mehr Publikum, desto mehr Aufwand, desto mehr meist umso verwirrteres Publikum. Die Vorteile einer Akkreditierung sind hierbei zwar nicht kürzere Schlangen, aber zumindest frühere Ticketschalteröffnungszeiten, was den verstörenden Anblick von in Schlafsäcken vor Ticketverkaufsstellen kampierenden Besuchern erklärt. Don't believe the Hype.

W imie... - Samstag 09.02.13, Friedrichstadt-Palast, 9.30 Uhr, Regie: Malgoska Szumowska
Thematisierung von unterdrückter Homosexualität in religiösen Gemeinschaften ist mittlerweile filmisch erschlossenes Gebiet („Du sollst nicht lieben“ (2010) ist Beispiel eines Erfolgs aus jüngerer Zeit). Ein schwuler Priester in einem polnischen Provinzdorf sticht hier nicht als Neuland hervor. Sein Arbeitgeber versetzt den an sich und der Welt zweifelnden Jugendarbeiter Gottes von einem Ort zum nächsten sobald – wie nicht anders zu erwarten – jemand von den weggesperrten Emotionen Wind bekommt. Der Wettbewerbsbeitrag reiht bekannte und weniger zu erwartende Szenen aneinander wie ein Bilderbuch, alltägliche Praktiken inszenierter Männlichkeit und Klischees provinzieller Machtstrukturen werden uncodiert in Bauarbeiten, Armdrücken oder Fußballspielen inszeniert. Weshalb „In the name of...“ trotzdem sehenswert war, entschlüsselt sich in den komischen Momenten, in denen Bilder die Narration ironisieren und kommentieren oder die Protagonisten sich urplötzlich von ihren bekannten Verhaltensmustern lösen, beispielsweise in einer Jagd durch ein Maisfeld, während der Priester Adam und Schützling Łukasz, zwei Primaten mimend, sich irgendwo zwischen Albernheit und Liebesspiel bewegen. Das Ende pointiert ambivalent und vielleicht zynisch den einzigen Ausweg eines Homosexuellen in Zeiten gesellschaftlicher Unterdrückung: im Priesterseminar, allein unter Männern.

2/10/2013

anwesend in abwesenheit / présence en absence

das Zitat von Stéphane Bouquet vor einigen Tagen unterstreicht den fließenden Übergang zwischen Tanz und Film, verbunden durch den Körper. Das Herz dieses Filmkörpers schlägt seit Donnerstag wieder in Berlin, zur 63. Berlinale, in diesem Jahr unter Vorsitz des chinesischen Regisseurs Wong Kar-Wai (der Mann, der mit Karl Lagerfeld die Manie der schwarzen Sonnenbrille teilt, war heute Vormittag auf Arte war, interviewt von Vincent Josse in einem der raren guten Interviewformate des Fernsehens, Square. zum Visionieren einfach A SUIVRE klicken). Die frostigen Temperaturen haben mich zwar nicht angezogen, dafür aber die warmen und dunklen Kinosäle, das Cocon der Bilderhöhle umso mehr. Immerhin bietet die Pariser Cinémathèque auch etwas Filmflair und ich übergebe für einige Eindrücke en direct von dem Festival, das Tilda Swinton seit gefühlten 600 Jahren bereits besucht, an eine Gastschreiberin, die jeden morgen den eisigen Temperaturen trotzt, um sich, mit einer Akkreditierung bewaffnet, die Kinokarten für den nächsten Tag zu sichern, merci für die Eindrücke. Wettbewerbsfilmrezensionen wird es dabei allerdings nicht geben, denn unser Gast wird sich in die Kinosäle begeben, die neue, kleinere und vielleicht noch unentdeckte Filmfundstücke bereithalten. Noch mehr lesen, sehen und hören, kann man auf dem guten Berlinaleblog des Perlentauchers, in der SMS-Berichterstattung des Cargo-Magazins, auf dem Fragmentfilm-Blog oder dem Blog der Berlinale im Dialog, en francais et en allemand, (neben den klassikern der sz und der zeit, wo katja nicodemus oder tobias kniebe ihre eindrücke teilen), auf dem gerade Thomas Arslans Westernversuch mit Nina Hoss den Ritt durch die Wüste nicht so gut überstanden hat.

la citation de Stéphane Bouquet il y a quelques jours symbolise une transition sans faute entre danse et film, reliés par le corps. Le coeur de ce corps filmé se trouve momentanément à Berlin, où il bat pour la 63ème édition du festival de cinéma Berlinale, cette année sous l'égide du grand Wong Kar-Wai (l'homme qui partage avec Karl Lagerfeld l'excès des lunettes de soleil était ce matin sur Arte, dans Square, interviewé par Vincent Josse dans ce que la télé a comme un des rares bons format d'interviews en ce moment, après A SUIVRE). Les températures bien loin d'un agréable zéro ne m'ont pas attirer, néanmoins j'aurai aimé me retirer dans une des salles de cinéma chauffée et noir, dans le cocon d'une grotte à image. Heureusement que la cinémathèque parisienne propose une peu de flair de remplacement et je peux sans rancune remettre les impressions du festival, auquel Tilda Swinton a l'impression d'assister depuis 600 ans déjà, à ma rédactrice invitée, qui boude le verglas sur le Potsdamer Platz pour acquérir les places des projections du jours. Merci de partager ta Berlinale! (la Berlinale en allemand). Cependant il n'y aura pas de critiques de films en compétition, car notre invité est à la recherche d'écumes cinématographiques nouvelles, plus petites et bien inconnues...encore. 


Postcards from Berlin
ein Gastbeitrag von / Rédactrie invitée Kristina Lutscher
© K. Lutscher
Tag 0 – Ankunft/Exposition

Berlin begrüßt mit Schnee, Wind und Stofftaschen, die wie jedes Jahr noch ein bisschen einfacher und unpraktischer geworden sind. Ich antworte mit einer simplen selbstgesetzten Rahmenbedingung: schau um dein Leben. Ganz im Sinne des Franzosen Gilles Deleuzes reicht es nicht, müde zu werden, sondern es soll bis zur Erschöpfung alles getan werden was möglich ist:

I used to be darker – Freitag 08.02.13, Delphi Theater 21.30 Uhr, Regie: Matt Porterfield

„Familiendrama“ - ein Wort ist beschreibend genug, um alle richtigen Assoziationen hervorzurufen: Trennung, Liebeskummer, Generationenkonflikte, Schwangerschaft. Die Nichte eines sich im Auflösungsprozess befindenden Musikerehepaars taucht bei unangekündigter Reise nach Übersee im falschen Moment vor Ort auf, mit dem Versuch, die unglückliche, selbstverständlich in Schwangerschaft endende Liebesaffäre zu verdauen. Die Handlung schrammt mitunter haarscharf am Klischee vorbei und doch erzeugen die langsamen Szenen für genug empathische Regungen, um sich nicht abgestoßen oder gelangweilt zu fühlen. Wahrscheinlich weil der Film weniger mit einer typischen Familienstudie gemein hat, als mit einer musikalischen Studie in menschlichem Umfeld. Situationen ergeben Lieder, Lieder Stimmungen, Stimmungen rufen Situationen hervor. Musik wird gemacht, gehört, performt. Und über all dies legt sich ein weißer Schleier, eine puderfarbene Oberfläche auf allen Bildern. Wie der Blick durch einen Spiegel im ersten Stadium des Erblindens oder wie eine Schicht feinen Mehlstaubs, der sich auf alles und alle gelegt hat. Die gleißende Sonne eines amerikanischen Küstensommers scheint dadurch noch intensiver Wärme auszustrahlen und passt doch nicht zur Kühle des Unausgesprochenen, zur Wut, zur Furcht, zur Frustration, zur Verzweiflung. Und doch, es ist kein pessimistischer, kein dunkler Film. Die erwartete Katastrophe, die Katharsis oder Auflösung fällt aus. Was bleibt ist einfach wie immer - nur Leben.

1/31/2011

über guten stil und männdermode-ein gastbeitrag



voller Freude öffnete ich gestern mein digitales Postfach und entdeckte den ersehnten Artikel meines Gastschreibers, der hier bereits seine Gedanken zu Houellebecqs Prix-Goncourt Erfolg in lesenswerte Worte fasste. Nun geht es um Adolf Loos' Warum ein Mann gut angezogen sein soll.

Fertige Krawatten, nein, die führen wir nicht!

Adolfs Loos Enthüllungen über Männerkleidung 
von Nicolas Oxen

© stockholmestreetstyle
Weg mit Opas Pullis! Adolf Loos widmet sich mit ästhetischer Streitlust der Männermode. In dem Essayband Warum ein Mann gut angezogen sein soll teilt Loos kräftig aus. Was der Großarchitekt der Moderne von guten Häusern erwartet, gilt auch für Hosen: Gegen extravagante Schnitte setzt der Wiener Dandy den kühlen Zauber der ewig schönen Schlichtheit. Guter Stil überdauert alle scheußlichen Retro-Trends. Dieses Buch befreit den Mann von size-zero Hosen und Lodenjacken.


Wir leben in Zeiten des Möglichen und des Ungefähren. Des Allesmöglichen? Besonders für die Mode scheint das zu gelten. „Warum ein Mann gut angezogen sein soll“, mit Sicherheit setzte unsere Zeit ein konjunktivisches sollte an das Ende dieses monolithischen Titels. Aber es handelt sich eben nicht um ein Beraterbuch, sondern das Manifest des klaren „modischen“ Stils. Männer und Mode. Was nach den M-Themen der Glanzmagazine klingt, erweißt sich als ihr Gegenteil. Stil ist Geradlinigkeit und Klarheit, nichts verbindet diese ästhetische Auffassung von Kleidung mit dem retro-stylo mash-up, der Bekleidungsphilosophie von „schräg und abgefahren“.
Der rotzige online-speak abertausender Modeblogs ist ein greller Kontrast zu diesem Buch, das seinen eingebildeten, autoritären Zug nicht loswird. Aber warum auch. Wie würde Kritik aussehen, wenn sie sich windet, statt wie bei Loos im Stechschritt des Sarkasmus zu marschieren? Ein guter Text, eine gute Textur, ein Stoff sind immer das Ergebnis von Haltung.Natürlich wird in diesem Buch auch ein bisschen Boutiquen-Wissen verbreitet und Shopping-Fetischismus betrieben. Loos zeigt sich gut informiert über Gehröcke, Hüte und deren beste Formen und Hersteller und weiß, warum der Frack ein Kleidungsstück für die Dunkelheit ist und das „Norfolkjaquet“ in keinem Kleiderschrank fehlen darf. Adolf Loos hat Stil, schreibt klar und streitet sarkastisch mit den hässlichen Dingen dieser Welt und mit sich selbst:

„Die Venus von Medici, das Pantheon [...] ja, das ist schön! Aber eine Hose!? Oder ob das Jacket drei oder vier Knöpfe besitzt!? Oder ob die Weste hoch oder tief ausgeschnitten ist!? Ich weiß nicht, mir wird immer schon angst und bang, wenn ich über die Schönheit solcher Sachen diskutieren höre.“

Darf man, muss man über so etwas wie Mode schreiben? Heute, wo das Wort Ästhetik inflationär gebraucht wird, scheinen solche Rechtfertigungsfragen überholt. Dass man allem
Diskussionsekel zum Trotz aber doch über Schönheit schreiben muss, zeigt sich in Loos Texten durch die permanente Enthüllungsleidenschaft und die ist grenzenlos, wie ein Blick ins Inhaltsverzeichnis verrät. Statt einer Monographie über Mode haben wir ein kleines Hausbuch in der Hand, das vom Kapitel „Wäsche“ bis zu dem Text „Vom Nachsalzen“ beschreibt, vorschreibt und kritisiert. Als poetische Eröffnung steht den Kapiteln das Lob der Gegenwart voran, ein Dank für das Glück und die Freiheiten der modernen Welt, das die Silben post-und re- nicht nur im Sinne der Mode überflüssig werden lässt. So befreiend wie befremdlich wirkt solch ein Text im Zeitalter der Gegenwartshäme und Vergangenheitssucht nach den „guten Dingen“. Die Mode und die moderne Welt. Diese beiden Dinge kann Loos preisen, weil er zu früh verstarb. Nach 1933 wurden Loos' geliebte Uniformen zu einer besonderen Bedrohung für die Errungenschaften der Moderne. Vielleicht ist diesem verpassten Einschnitt in die Geschichte die Zeitlosigkeit zu verdanken, die Adolf Loos an Mode so verehrt. Gemeint sind damit nicht die ewig schönen Dinge, sondern die nicht versiegende sinnliche Freude an perfekter Verarbeitung und hochwertigem Material.

„An Stelle der bisherigen Vorliebe für das Ornament muß der Gefallen am Material treten. Wir
kennen das Material überhaupt nicht.“

Dass Loos kein großer Fan von Ornamenten ist, weiß man aus seiner harten Kritik am Jugendstil und der großen Streitschrift des Funktionalismus Ornament und Verbrechen von 1908. Das klingt nach lustfeindlichem, wütenden Purismus, aber an Loos Beschreibungen wird deutlich, dass er ein sinnender und sinnlicher Dandy bleibt, für den Dekoration nur Zeit- und Kraftverschwendung ist. Eine glatte, sauber polierte Zigarettendose zu befühlen, die Textur eines guten Stoffs zu spüren, sind die wahren ästhetischen Freuden an den Gebrauchsgegenständen. Aber wann ist man jetzt gut angezogen? Loos Stilformel ist wie erwartet kurz und simpel:
„Gut angezogen sein, was heißt das? Das heißt korrekt angezogen sein.“ Und diese Korrektheit hat nichts mit Krawattenkonservatismus zu tun. Korrekt verbindet Loos mit Unauffälligkeit. Dass Mode nicht auffallen soll mag paradox klingen, es geht Loos aber nicht direkt um Mode, sondern darum gut angezogen zu sein. Modisch, ist was auffällt weil es verfällt – Hüte, Röcke, Jacken die man ein Jahr trägt und im nächsten damit dämlich auffallen wird, weil der new style nun eben alt geworden ist. Guter Stil und gute Kleidung ist funktional, universal und ewig. Eindrücklich wie bizarr wirkt, was Loos schon Anfang des letzten Jahrhunderts über Kleidung wusste -was an Kleidung wirklich bleibt, ist die Form.
Ein harter Schlag für die Liebhaber der Retro-Mottenkisten, die Jahr für Jahr neue Scheußlichkeiten der 80er, 90er und bald wahrscheinlich 00er rauskramen.
Was war ist gewesen und nichts kommt zurück. Dem preppie-Proletariat von H&M sei gesagt: Vatis alte Segelschuhe und Chinos aus Bangladesh sind kein Beweis für modisches Understatement. Für Styler aller Art benutzt Loos das schöne Wiener Schmähwort Gigerl. Einfallslose fashion victims, die sich mit so wenig Persönlichkeit kleiden, dass Mode zur Selbstrechtfertigung wird:

„Ein Gigerl ist ein Mensch, dem die Kleidung nur dazu dient, sich von seiner Umgebung
abzuheben. Bald wir die Ethik, bald die Hygiene, bald die Ästehtik herangezogen, um dieses
hanswurstige Gebaren erklären zu helfen.“

Letzte Frage: Geht es in diesem Buch um Männer und Mode? Die Antwort ist: Nein. Mode ist für Loos die Moden, Trends die kommen und vergehen. Mit Bekleidung hat das für ihn wenig zu tun. In erster Linie schreibt Loos über sich, seine Lust und Sehnsucht nach schönem Material und einfachen sinnvollen Kleidungsstücken. Das macht aus diesem Buch mehr als einen Stylingguide, Der Stil überdauert den Trend. Aktualitätsbezüge finden sich dennoch zu hauf. Schon auf Seite 13 erfahren wir, warum Karl Theodor zu Guttenberg gut daran getan hat, die graue Lodenjacke mit Hirschhornknöpfen im Schrank zu lassen:

„Die Tracht ist die Verkörperung der Resignation“.

11/18/2010

nachwort - ein gastbeitrag

da musste doch noch etwas mehr her, als mein kleiner hinweis zu frankreichs großem literaturspektakel. diesmal ausführlich und in ordentlicher artikellänge, merci beaucoup à mon ami artiste du bon mot et bonne lecture...


Prix Goncourt für Michel Houellebecq
von Nicolas Oxen

Der stille Defätist

Nach zwei folgenlosen Nominierungen, schließt Frankreich eines seiner „bösen Kinder“ wieder in die Arme und verleiht Michel Houellebecq seinen wichtigsten Literaturpreis.
Sein neuer Roman „La carte et le territoire“ provoziert wie immer – diesmals leider auch die vereinnahmende Lobhudelei der französischen Literaturkritik.


„Karten, nicht kopien machen!“ war der Schlachtruf mit dem Gilles Deleuze und Felix Guattari 1974 in ihrem Vorwort zu „Tausend Plateaus“ die Axt an den Stamm der einförmigen Baum- und Buchkultur legten. Zu zersägen galt, was an ideologischen Verbindungen zwischen Nation und Literatur in Europa gewachsen war.
„La carte et le territoire“ ist ein sprechender Titel auf dem Einband von Houllebecqs neuem Roman, der in starken Linien die Karte der modernen französischen Gesellschaft nachzeichnet, von der an nationaler Symbolik nicht mehr geblieben ist, als das  politische Territorium und leere Traditionsfolklore.
Das „Rhizom“, ein Wurzelwerk, stand bei Deleuze und Guattari noch für den künstlerischen und gesellschaftlichen Aufbruch. Die Idee der Kultur als wucherndes Wurzelgeflecht,  gegen  die stolzen Stämme der sogenannten „Kulturnationen“.
Müßig scheint es von Kultur und Gesellschaft  zu sprechen – von Kultur und Politik ganz zu schweigen.
Die „Vielheiten“, von denen die ver-rückten Kulturtheoretiker damals sprachen, sieht das sarkozystische Frankreich heute als große Bedrohung und hat die „Deterritorialisierung“  mit „Abschiebung“ übersetzt.  Der Staat herrscht durch Bücher und zugleich über sie, so bleibt das Literarische immer politisch und das Politische zugleich literarisch.
So bizarre wie real, erscheint diese krumme Beziehung besonders in einer grande nation wie Frankreich, die nach Nicolas Sarkozys kruder Kopfgeburt des Ministère de la culture et de l'identité nationale die kulturelle Besitzstandswahrung zur Identitätsbastelei missbraucht.
Solchen waghalsigen Konstruktionen hat sich Houellebecq in seinem Roman immer zynisch entgegen gestellt. Für ihn existiert Frankreich auf der Karte als geographisches  Territorium. Dessen Grenzen halten nur noch eine Masse erschöpfter Menschen zusammen. Die „Kinder des Vaterlandes“ sind wie in allen hochgezüchteten Industriestaaten einsame, frustrierte Triebtiere im Kampf mit der eigenen sexuellen Ökonomie. Kultur ist eine neue Form des Marketing und die Gesellschaft ein post- und hpyer- individualisiertes  Konglomerat unglücklicher Existenzen.
Burnout ist da Lebensprinzip, bei dem aus Leidenschaft weder Liebe noch Leistung entsteht.
„Extension du domaine de la lutte“ (1994) (Ausweitung der Kampfzone 1999), Titel seines ersten Romans, klingt in diesem Zusammenhang fast programmatisch, er ist eine Parabel auf den Einbruch von Kommerz und Lifstyle in zwischenmenschliche (Sex-)Beziehungen. Wer von Houellebecq gutmenschliche Heilserzählungen erwartet, für den bleibt er zynischer Nihilist, ein „Geist der stets verneint“.
„Und das mit Recht“ muss man anfügen, denn genau das macht ihn zum großen Moralisten. Nicht moralisch zu sein ist Aufgabe des echten Humanisten, nicht  großspurig Auswege als Heilsversprechungen anzupreisen sondern deren Funktion zu denunzieren. Was bleibt ist die Entgrenzung, die Flucht vor dem  großen Beschiss der „foutaise merdique“, sei es die Freikörperkultur der französischen Swinger-Strände wie in „Les particules élémentaires“ (1998) (Elementarteilchen) oder der Sextourismus in Thailand  in „Plateforme“ (2001) (Plattform, 2003). Immer schon ist die post-kapitalistische Gesellschaft der totalen Individualisation ein perverses S/M-Spiel aus Lustgewinn und Knechtung.
„La carte et le territoire“ macht deutlich, dass auch der heilige Schein der Kunst keine Erlösung verspricht, sondern sich nach den Mustern des Kommerzes selbst generiert.
Zwischen  den Sach-und Ausdruckszwängen zwischen Politik, Kunst und Kapital ist die Hauptfigur Jed Martin ein unfreiwillig kritischer Künstler. „Damien Hurst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf“ ist der Titel eines seiner Bilder, ein sarkastischer Kommentar in Öl auf das schnelle Geld mit dem schönen Schein der Kunst. Aber auch Jed ist ein Künstler im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, die nicht mehr nur Kopien, sondern auch den style verhökert. Die Straßenkarten von Michelin, der französichen Institution für territoriale und kulinarische Orientierung, sind die Vorlagen für seine Fotoserien, die sich zu astronomischen Preisen wie warme Semmel verkaufen lassen. Jed wird hochgehandelter Star-(künstler), der unfreiwillig eine große nationale Sehnsucht befriedigt hat, die nach dem territoire oder vielmehr dem terroir, diesem erdigen Begriff, dem auratischen Wort, das auf jeder billigen Käseverpackung kulinarische Ursprünglichkeit suggerieren soll.
Gekonnt karikiert dieser Roman „la vielle France“ und ihre mythologies, den Charme der alten Dame. Das ist bei Houellebecq nichts Neues, aber wie immer stilistisch scharf und schnörkellos präsentiert.
Jetzt ist er prämiert, dieser kalter Stil, der beschreibt, ohne mit dem Finger zu zeigen und so die Verzweiflung  radikal und ohne Erlösungsversprechen sichtbar macht.  
Inhaltlich findet man einige Themen und Figuren wieder, an denen sich interpretatorische Kritik gütlich laben mag: das schwierige Vater-Sohn-Verhältnis, den Sexappeal der kraftvollen Karrierefrauen, glücklose Fickerei und die existenzialistische Tristesse des Alltäglichen. Er sei zahm geworden hat man gesagt, „beherrscht“ sei sein Roman und erzählerische Griffe, wie die reflexive Thematisierung der Autorenfigur gelobt. Doch die  sind nicht mehr, als sie eben sind – Gestaltungsmittel. Michel Houellebecq „stirbt sich“ in diesem Buch so absurd wie Ionescos König. Grausam zerstückelt wird er in seinem Appartement aufgefunden, nachdem er die Texte für Jeds Ausstellungskatalog geschrieben hat. Seine fleischlichen Überreste, sind kaum von denen seines Hundes zu unterscheiden, den das gleiche Schicksal ereilt hat.  Der werkimmanente Splatter-Tod ist hier kein Kunstgriff einer mise-en-abyme sondern Resultat einer Abstraktion von Autor zu Figur, die schließlich auf ihre Einzelteile, Fleischstücke reduziert wird. So arbeitet auch die Gesellschaft, die Houellebecq im Auge hat, auch sie belegt Wurst mit Fitness- und Wellnessversprechungen. „Michel Houellebecq“ ist hier ein Etikett, leeres Marketingversprechen, das durch „Autor von“ ergänzt, auch in jeder Buchbroschüre stehen könnte.
 
Michel Houellebecq ist „immer schon ganz woanders“ wie Deleuze und Guattari es schreiben. Ganze konkret seit mehreren Jahren auf Lanzarote, außerhalb des Territoriums. Denn spätestens seit „Plateforme“ gilt Houellebecq als perverser, islamhassender Reaktionär. Zu kontrovers war das Buch und flog im Terrorjahr 2001 aus der zweiten Selektion für den Prix Goncourt.  Trotz allem Sicherheitabstand, war man froh über den bösen Provokateur, das viel übersetzte Aushängeschild Frankreichs.
Jetzt erfolgt die Heimholung durch die die Lobhudelei der französischen Kritik, die seinen neuen Roman als „beherrscht“ bezeichnet und mit einem erzählerischen Qualitätssiegel versieht. Sogar der ewige „Balzac-Vergleich“ muss nochmal als literariturkritische Einordnungsverbigung  herhalten, um Houellebecq mit der nationalen Kulturtradition auf Linie zu bringen – so sieht sie aus, die echte „Comedie humaine“. Auch literarische Tradition ist eben biegsam.
Arthur Rimbaud und Charles Baudelair, Jean Genet und Céline alles „böse Poeten“ und „schlimme Kinder“. Auch sie hat die grande nation verspätet im panthéon der Nationalkultur begraben. So werden die großen geschmähten Geister zum Schweigen gebracht, um nicht länger von Rausch und Exzess, von Haschisch, Wein und Grausamkeit zu singen.
Jeder Preis, jede Anerkennung bedeutet immer auch Vereinnahmung, die stürmische Umarmung der französischen Kritik seufzt „enfin!“, als hätte der „Goncourt“ auf diesen Autor gewartet. Das der Berg jetzt zum Propheten kommt, ändert für das Projekt Houellebecq aber recht wenig. „ Le Sense du combat“, lautet der Titel seiner frühen Gedichtsammlung. Nach dem „Sense“ mögen die Kritiker weiter eifrig suchen, es mit  „Richtung“, „Bedeutung“ oder „Sinn“  übersetzen und verbiegen – was bleibt und zählt ist der Kampf um das Glück.